Kündigung einer Betriebsvereinbarung - Nachwirkung

BAG 6 AZR 278/88 vom 26. Apr. 1990

Leitsatz

1. Eine Betriebsvereinbarung über ein freiwilliges übertarifliches Weihnachtsgeld, mit dem auch vergangene langjährige Betriebstreue belohnt werden soll, kann ohne Einschränkung unter den Voraussetzungen des § 77 Abs. 5 BetrVG gekündigt werden.

2. Die Betriebsvereinbarung wirkt nach Ablauf der Kündigungsfrist weder nach § 77 Abs. 6 BetrVG noch nach § 4 Abs. 5 TVG analog nach.

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Zahlung einer zusätzlichen Sondervergütung für das Jahr 1986. Die Kläger sind seit mehreren Jahren bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin beschäftigt. Auf die Arbeitsverhältnisse findet kraft Tarifbindung der Parteien der Tarifvertrag über die tarifliche Absicherung eines Teiles eines 13. Monatseinkommens in der Eisen-, Metall-, Elektro- und Zentralheizungsindustrie Nordrhein-Westfalens vom 30. Oktober 1976 (TV 13. ME) in der jeweiligen Fassung Anwendung. Nach Maßgabe des § 2 TV 13. ME haben die Kläger einen nach Betriebszugehörigkeitsdauer gestaffelten Anspruch auf eine jährliche Sonderzahlung.

Die Beklagte gewährte den Klägern in der Vergangenheit bis einschließlich 1985 neben dieser tariflichen Leistung eine zusätzliche Sonderzuwendung aufgrund einer vom Betriebsrat mit der Rechtsvorgängerin der Beklagten abgeschlossenen Betriebsvereinbarung vom 6. März 1975. Diese enthielt folgende Regelung:

" Betriebsvereinbarung

Mitarbeiter, die jeweils am 1. November eines Jahres 10 Jahre und mehr in unserem Unternehmen tätig sind, erhalten neben der tariflich festgesetzten Sonderzahlung ein zusätzliches Weihnachtsgeld in Höhe von 10 % eines Monatsverdienstes. Mitarbeiter, die zu dem genannten Stichtag 15 Jahre und mehr in unserem Unternehmen tätig sind, erhalten ein zusätzliches Weihnachtsgeld in Höhe von 15 % eines Monatsverdienstes. Mitarbeiter, die 20 Jahre und mehr in unserem Unternehmen tätig sind, erhalten ein zusätzliches Weihnachtsgeld in Höhe von 20 % eines Monatsverdienstes.

Mitarbeiter, die 25 Jahre und mehr in unserem Unternehmen tätig sind, erhalten ein zusätzliches Weihnachtsgeld in Höhe von 25 % eines Monatsverdienstes.

Diese Regelung gilt für das Jahr 1975. Ab 1976 erhöhen sich die genannten Prozentsätze für das zusätzliche Weihnachtsgeld auf 15 % bei 10-jähriger Betriebszugehörigkeit, 22,5% bei 15-jähriger Betriebszugehörigkeit, 30% bei 20-jähriger Betriebszugehörigkeit, 37,5% bei 25-jähriger Betriebszugehörigkeit. Mit dieser Sondervergütung wollen wir die treue Verbundenheit unserer langjährigen Mitarbeiter zu unserem Hause honorieren und vertiefen."

Die Beklagte kündigte die Betriebsvereinbarung mit folgendem Schreiben vom 19. Juni 1986:

"Sehr geehrte Herren,

im Anschluß an unser Gespräch vom 18.06.86 kündigen wir hiermit aus den dargelegten Gründen die Betriebsvereinbarung vom 06.03.1975. Nach dem Urlaub werden wir mit Ihnen über eine neue Betriebsvereinbarung verhandeln, die dann davon ausgehen soll, daß Sonderzahlungen in Abhängigkeit unserer finanziellen Situation jährlich vereinbart werden."

Die Beklagte zahlte den Klägern für 1986 das zusätzliche Weihnachtsgeld nicht mehr. Zu einer neuen Betriebsvereinbarung kam es nicht.

Die Kläger haben gemeint, sie hätten für das Jahr 1986 Anspruch auf Zahlung des Weihnachtsgeldes nach der Betriebsvereinbarung vom 6. März 1975. Diese verstoße weder gegen § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG noch sei sie wegen der Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG unwirksam. Die Kündigung der Beklagten vom 19. Juni 1986 sei unwirksam. Die Betriebsvereinbarung habe eine jährliche Einmalzahlung mit einer Stichtagsregelung zum 1. November normiert. Die von der Betriebsvereinbarung begünstigten Arbeitnehmer hätten deshalb seit dem 1. November 1985 eine Anwartschaft auf die Leistung erworben. In diesem Fall sei § 77 Abs. 5 BetrVG nicht ohne Einschränkung anzuwenden. Denn anderenfalls sei der Arbeitgeber in der Lage, durch Kündigung während der Anwartschaftszeit, im Extremfall einen Tag vor Fälligkeit der Leistung, das Erstarken der Anwartschaft zum Vollrecht zu verhindern. Sei die Kündigung wirksam, so gelte die Betriebsvereinbarung gemäß § 77 Abs. 6 BetrVG kraft Nachwirkung weiter. Im übrigen seien auch dann, wenn die Betriebsvereinbarung wirksam gekündigt worden sei und eine Nachwirkung ausscheide, die Zahlungsansprüche aufgrund individueller Zusage bzw. betrieblicher Übung gegeben.

Die Kläger haben beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an die Kläger folgende Bruttobeträge nebst 4 % Zinsen auf den Nettobetrag seit Klagezustellung zu zahlen, nämlich an den Kläger....

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und gemeint, die Kläger hätten keinen Anspruch aus der Betriebsvereinbarung vom 6. März 1975. Diese sei nach § 77 Abs. 3 BetrVG unwirksam. Sollte sie wirksam gewesen sein, so sei sie rechtmäßig gekündigt worden. Die gekündigte Betriebsvereinbarung entfalte keine Nachwirkung, weil die Leistungen in vollem Umfang abgeschafft worden seien. Die Kläger könnten ihre Ansprüche auch nicht auf individualrechtliche Grundlagen stützen.

Das Arbeitsgericht hat die Klagen abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Prozesse zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung miteinander verbunden und die Berufungen der Kläger zurückgewiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgen die Kläger ihr ursprüngliches Klageziel weiter, während die Beklagte Zurückweisung der Revision beantragt.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

2. Die Kläger haben keinen Anspruch aus der Betriebsvereinbarung 1975. Es kann dahingestellt bleiben, ob die von der Rechtsvorgängerin der Beklagten mit dem Betriebsrat abgeschlossene Betriebsvereinbarung von Anfang an wegen Mißachtung der Sperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG unwirksam war oder ob § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG für eine Betriebsvereinbarung mit dem vorliegenden Inhalt keine Sperrwirkung entfaltet. Denn auch wenn die Wirksamkeit der Betriebsvereinbarung zugunsten der Kläger unterstellt wird, sind deren anspruchsbegründende Normen durch die Kündigung der Beklagten vom 19. Juni 1986 entfallen.

a) § 77 Abs. 5 BetrVG bestimmt, daß Betriebsvereinbarungen mit einer Frist von drei Monaten gekündigt werden können, soweit nichts anderes vereinbart ist. Da die Betriebsvereinbarung 1975 keine Bestimmung über die Kündigung und ihre Fristen enthält, konnte die Beklagte zu jeder Zeit kündigen mit der Folge, daß die Regelungen der Betriebsvereinbarung ihre unmittelbare und zwingende Geltungswirkung nach § 77 Abs. 4 BetrVG mit Ablauf von drei Monaten nach Zugang der Kündigungserklärung verloren haben. Die Wahl einer längeren Frist ist unschädlich.

b) Die Kündigung war auch nicht aus anderen Gründen ausgeschlossen oder unwirksam. Die entgegenstehende Rechtsauffassung der Revision, die Kündigung der Beklagten verstoße gegen Treu und Glauben, ist unzutreffend. TEXT(1) § 77 Abs. 5 BetrVG räumt den Parteien einer Betriebsvereinbarung grundsätzlich ein freies Kündigungsrecht ein, sofern nicht in der Betriebsvereinbarung selbst etwas anderes bestimmt ist. Das freie Kündigungsrecht der Parteien einer Betriebsvereinbarung unterliegt allerdings nach herrschender Meinung unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum Betriebsverfassungsgesetz 1952 insofern einer Einschränkung, als solche Betriebsvereinbarungen nicht kündbar sein sollen, die Regelungen für einmalige Fälle enthalten. Diese Einschränkung beruht darauf, daß sich in diesem Fall aus dem Inhalt einer Betriebsvereinbarung der Ausschluß der ordentlichen Kündbarkeit ergebe. Diese Überlegung greift die Revision auf, wenn sie geltend macht, die Ausübung des Gestaltungsrechts "Kündigung" verstoße im Streitfall gegen Treu und Glauben, weil im Laufe des Bezugszeitraums "Kalenderjahr" gekündigt worden sei. Eine sachgerechte Auslegung nach Sinn und Zweck der Betriebsvereinbarung unter Berücksichtigung des § 242 BGB und des Grundsatzes der vertrauensvollen Zusammenarbeit nach § 2 BetrVG führe dazu, eine Kündigung in Fällen der vorliegenden Art immer nur zum Ablauf des Bezugszeitraums zuzulassen. Dem ist jedoch nicht zuzustimmen. Die Kläger gehen nämlich von der unrichtigen Prämisse aus, im Laufe des Kalenderjahres eine Anwartschaft zu erwerben, die am 1. November des jeweiligen Jahres zum Vollrecht erstarke. Die Betriebsvereinbarung 1975 gewährte den Mitarbeitern der Beklagten aber kein Anwartschaftsrecht wie z.B. eine Betriebsvereinbarung über eine betriebliche Altersversorgung. Regelungsgegenstand der Betriebsvereinbarung war eine jährliche Einmalzahlung, die nicht nur eine zusätzliche Vergütung für die im Bezugsjahr geleistete Arbeit zum Inhalt hatte, sondern in der Vergangenheit bewiesene langjährige Betriebstreue besonders honorierte. Dies ergibt sich aus den Anspruchsvoraussetzungen. Danach waren nur diejenigen Arbeitnehmer zum Bezug der Zuwendung berechtigt, die am 1. November eines Jahres mindestens zehn Jahre im Unternehmen tätig waren, wobei sich die Leistung bei darüber hinausgehender langjähriger Betriebszugehörigkeit in einer Staffelung weiter erhöhte. Damit handelte es sich bei der Leistung um eine Gratifikation mit Mischcharakter, die den Arbeitnehmern Anreiz bieten sollte, im Betrieb zu verbleiben und nicht den Arbeitgeber zu wechseln. Dem Betrieb sollte ein Stamm langjähriger Mitarbeiter erhalten werden. Bei einer an eine Stichtagsregelung gebundenen freiwilligen Gratifikationsleistung mit Mischcharakter entsteht aber weder ein Anwartschaftsrecht noch ein Teilvollrecht pro rata temporis. Hinsichtlich der Beendigung gilt für Gratifikationsansprüche diesen Inhalts aus einer Betriebsvereinbarung nichts anderes als für Ansprüche aus individualrechtlichen Zulagen. Auch in diesem Bereich ist es dem kündigenden Arbeitgeber lediglich dann verwehrt, sich auf eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses wegen betriebsbedingter Gründe zu berufen, wenn der Arbeitnehmer die Arbeitsleistung im Bezugszeitraum voll erbracht hat und nur an der Erfüllung der zukunftsbezogenen Voraussetzungen durch betriebsbedingte Kündigung gehindert wird. Das entspricht der Auffassung des erkennenden Senats. Damit ist zugleich die von der Revision vertretene Rechtsauffassung abzulehnen, das Vertrauen der Arbeitnehmer auf den Fortbestand der Anspruchsgrundlage verbiete eine Kündigung im Laufe des Bezugszeitraums. Denn derjenige, dessen Anspruch von dem Erreichen eines Stichtags abhängt, hat angesichts der vielfältigen Möglichkeiten, die das Erreichen dieses Tages verhindern können, kein schutzwürdiges Vertrauen. Das gilt um so mehr, als es den Parteien der Betriebsvereinbarung freigestanden hat, die Kündigung der Betriebsvereinbarung nur zum Ende des Bezugszeitraumskalenderjahres zu gestatten.

(2) Das freie Kündigungsrecht der Parteien einer Betriebsvereinbarung wird nicht wie das individualrechtliche Kündigungsrecht des Arbeitgebers hinsichtlich der Arbeitsvertragsbedingungen durch Kündigungsschutzbestimmungen verschiedener Art eingeschränkt. Der Kündigungsschutz ist dem Recht der Betriebsvereinbarung fremd. Die Kündigung bedarf nicht einmal eines sachlichen Grundes, der von den Gerichten für Arbeitssachen überprüfbar wäre. In jüngster Zeit hat Schaub (BB 1990, 289) zu erwägen gegeben, die Kündigung von Betriebsvereinbarungen unter den verfassungsrechtlichen Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit, des Ultima-ratio-Prinzips und des Vertrauensschutzes zu überprüfen. Der Senat teilt diese Überlegungen nicht. Sie setzen voraus, daß § 77 Abs. 5 BetrVG eine Regelungslücke enthält, die vom Gesetzgeber zudem ungewollt belassen worden ist und deshalb von den Gerichten geschlossen werden darf. Davon kann nicht ausgegangen werden. Nach der Regierungsbegründung zum Betriebsverfassungsgesetz (BT-Drucks. VI/1786 S. 47) lehnen sich die Bestimmungen der Absätze 4 bis 6 des § 77 an die Regelung für Tarifverträge nach dem Tarifvertragsgesetz an und sollen (derzeit) bestehende Rechtsunklarheiten beseitigen. Das spricht für die Vollständigkeit der Regelung ebenso wie die Betrachtung der Vorschriften des § 77 BetrVG insgesamt. Die Möglichkeit der abweichenden Vereinbarung über § 77 Abs. 5 BetrVG und die Nachwirkungsregelung des § 77 Abs. 6 BetrVG für mitbestimmungspflichtige Betriebsvereinbarungen gewähren den anspruchsberechtigten Arbeitnehmern einer Betriebsvereinbarung so hinreichenden Schutz, daß jedenfalls eine unbewußte Lücke im Regelungsbereich des § 77 Abs. 5 BetrVG, die allein die Einführung eines übergesetzlichen Kündigungsschutzes gestattet, nicht angenommen werden kann.

3. Die Kläger können ihren Anspruch auch nicht auf eine nach § 77 Abs. 6 BetrVG nachwirkende Betriebsvereinbarung stützen.

a) Nach § 77 Abs. 6 BetrVG gelten die Regelungen einer Betriebsvereinbarung nach deren Ablauf in Angelegenheiten weiter, in denen ein Spruch der Einigungsstelle die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat ersetzen kann, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Nach dem Wortlaut kommt diese Vorschrift im Bereich der sozialen Angelegenheiten nur bei den sog. erzwingbaren Betriebsvereinbarungen nach § 87 Abs. 2 BetrVG zur Anwendung, nicht hingegen bei freiwilligen Betriebsvereinbarungen nach § 88 BetrVG.

b) Bei der Gewährung einer freiwilligen übertariflichen Gratifikation wie im Streitfall hat der Betriebsrat nur ein Mitwirkungsrecht nach § 88 BetrVG. Der Arbeitgeber kann mitbestimmungsfrei darüber entscheiden, ob er die Leistungen gewähren und welche Mittel er dafür einsetzen will. Lediglich die Ausgestaltung der Verteilungsgrundsätze ist mitbestimmungspflichtig nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG. Betriebsvereinbarungen dieses Inhalts werden daher als teilmitbestimmte Betriebsvereinbarungen bezeichnet.

(1) Im Schrifttum ist umstritten, ob solche Betriebsvereinbarungen nach ihrem Ablauf z.B. durch Kündigung nachwirken. Neben den Autoren, die eine Nachwirkung freiwilliger Betriebsvereinbarungen in analoger Anwendung des § 4 Abs. 5 TVG befürworten, die Nachwirkung von Betriebsvereinbarungen über teilmitbestimmungspflichtige Sozialleistungen erstrecke sich automatisch auch auf die mitbestimmungsfreien Vorgaben hält eine Nachwirkung für gegeben, wenn die Kündigung der Betriebsvereinbarung darauf beruht, daß der Verteilungsschlüssel geändert werden soll, also eine Art "Änderungskündigung" vorliegt. Wenn die Kündigung auf eine ersatzlose Beseitigung der Leistung abziele, könne es keine Nachwirkung geben. Dies von ihm selbst als merkwürdig bezeichnete Ergebnis will Hanau mildern, indem er durch ergänzende Auslegung der Betriebsvereinbarung mit Dauercharakter insbesondere in der betrieblichen Altersversorgung einen Kündigungsausschluß als konkludent vereinbart annimmt. Demgegenüber meint Leinemann, eine Nachwirkung scheide nach Ablauf einer Betriebsvereinbarung über Sozialleistungen aus. Nach einer Kündigung sei kein Raum mehr für einen mitbestimmungspflichtigen Leistungsplan oder einen Verteilungsschlüssel.

(2) Der Achte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat die Nachwirkung einer gekündigten Betriebsvereinbarung über ein übertarifliches Urlaubsgeld in seinem Urteil vom 9. Februar 1989 abgelehnt, weil der Arbeitgeber sich entschlossen hatte, die Zahlung des übertariflichen Urlaubsgeldes einzustellen. Der Betriebsrat habe kein Mitbestimmungsrecht bei der Entscheidung des Arbeitgebers, die Zahlung einer übertariflichen Zulage zu beginnen oder sie einzustellen. Insoweit bestehe nur ein Mitwirkungsrecht nach § 88 BetrVG. Ein Mitbestimmungsrecht habe der Betriebsrat nur, solange der Arbeitgeber eine übertarifliche Leistung gewähre. Nur insoweit stellten sich die Fragen der Verteilung und der Regelung anderer Bezugsbedingungen für die übertarifliche Leistung, um derentwillen dem Betriebsrat das Mitbestimmungsrecht zur Sicherung betrieblicher Lohngerechtigkeit nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG zustehe. Falle die Leistung infolge der Kündigung der Betriebsvereinbarung weg, so sei auch für das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats kein Raum. Der Spruch der Einigungsstelle könne daher eine Einigung der Betriebspartner nicht ersetzen.

Nicht so grundsätzlicher Art sind die Ausführungen des Dritten Senats des Bundesarbeitsgerichts in seinem Urteil vom 18. April 1989. Er hat ebenfalls die Nachwirkung einer durch außerordentliche Kündigung abgelaufenen Betriebsvereinbarung (hier über eine betriebliche Altersversorgung) verneint, aber gemeint, die Kündigung führe nicht ohne weiteres zum Wegfall der Aussicht, durch weitere Betriebstreue eine höhere Betriebsrente verdienen zu können. Diese Anwartschaft werde kraft Gesetzes geschützt. Der Ablauf der Geltungsdauer einer Betriebsvereinbarung sage deshalb noch nichts darüber aus, ob und in welchem Umfang eventuelle Versorgungsbesitzstände der Arbeitnehmer, die aufgrund der Betriebsvereinbarung entstanden seien, geschützt werden müßten. Diese Frage könne im Fall der Kündigung einer Betriebsvereinbarung nicht anders behandelt werden als im Falle der Ablösung einer Betriebsvereinbarung durch eine nachfolgende Betriebsvereinbarung. Der einzige Unterschied bestehe darin, daß bei der Kündigung von einem einseitigen Lösungsrecht Gebrauch gemacht werde, während bei einer inhaltsgleichen Ablösung Arbeitgeber und Betriebsrat die alte Regelung gemeinsam aufheben. Wenn aber schon die Änderung einer Betriebsvereinbarung durch eine spätere Betriebsvereinbarung der gesetzlichen Billigkeitskontrolle unterliegt, dann müsse das erst recht gelten, wenn der Arbeitgeber von dem einseitigen Lösungsmittel der Kündigung Gebrauch mache. Die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes müßten auch in diesem Fall beachtet werden. Also müsse sich der Umfang des Eingriffs auf der Seite des Arbeitgebers danach richten, wie gewichtig die Gründe seien, die ihn zur Kündigung veranlaßten. Auf der Seite der Arbeitnehmer sei zu unterscheiden, ob es sich um einen Eingriff in den bereits erdienten Teilbetrag einer Anwartschaft handele, ob zugesagte Berechnungsfaktoren, z.B. der Faktor "ruhegehaltsfähiges Entgelt", zum Nachteil des Arbeitnehmers geändert werden oder ob rein dienstzeitabhängige künftige Steigerungsbeträge entfallen sollten. Dazu meint Blomeyer, der Dritte Senat habe damit die Nachwirkung formell zwar abgelehnt, sie aber de facto jedenfalls für den Bereich des Anwachsens von Anwartschaften aus der betrieblichen Altersversorgung anerkannt.

(3) Der erkennende Senat stimmt den Überlegungen des Achten Senats für den Bereich der freiwilligen Betriebsvereinbarung über eine übertarifliche Gratifikation zu. Ist eine solche Betriebsvereinbarung durch Kündigung mit dem Ende der Kündigungsfrist abgelaufen, so entfalten ihre Regelungen keine Nachwirkung. Nach der zutreffenden Rechtsprechung des Ersten Senats des Bundesarbeitsgerichts hat der Betriebsrat nicht mitzubestimmen, wenn der Arbeitgeber seine freiwillige Leistung insgesamt kürzt. Der Betriebsrat hat keine Möglichkeit, den bisherigen Leistungsplan und Verteilungsschlüssel zu erhalten oder einen neuen durch Anrufung der Einigungsstelle zu erzwingen. Damit sind die gesetzlichen Voraussetzungen des § 77 Abs. 6 BetrVG ersichtlich nicht gegeben. Darüber hinaus verbietet die Wechselwirkung der §§ 8877 Abs. 5 BetrVG, d.h. die gesetzliche Vorgabe, daß sich der Arbeitgeber von freiwillig übernommenen Belastungen unter Einhaltung der Kündigungsfrist ohne gerichtlich nachprüfbare Begründung trennen darf, die Annahme einer Nachwirkung, die das Gegenteil bewirkte und den Arbeitgeber weitgehend wie bisher belastete.

Der Senat setzt sich damit nicht in Widerspruch zur Entscheidung des Dritten Senats des Bundesarbeitsgerichts, der ebenfalls die Nachwirkung verneint hat und nur für den Bereich der betrieblichen Altersversorgung wegen des dort gesetzlich normierten Verfallbarkeitsschutzes und der dazu ergänzenden Rechtsprechung zu einem abweichenden Ergebnis gekommen ist.

(4) Eine Nachwirkung kommt auch nicht deswegen in Betracht, weil nach Auffassung der Revision die Beklagte die Betriebsvereinbarung nicht endgültig gekündigt, sondern nur einen anderen Verteilungsrahmen habe einführen wollen. Ein solcher Erklärungswert kann dem zweiten Absatz des Kündigungsschreibens vom 19. Juni 1986 nicht entnommen werden. Es handelt sich bei der Kündigung nicht nur um die Modifizierung der Zahlungspflicht, sondern um deren Beendigung mit der vagen Aussicht, über eine Lösung verhandeln zu wollen, die keine Dauerleistung mehr enthalten sollte, sondern eine jährliche Verhandlungspflicht über das "Ob" einer Leistung.

4. Die Kläger haben auch keinen individualrechtlichen Anspruch für den Fall der Unwirksamkeit der Betriebsvereinbarung. Der Senat pflichtet im Ergebnis den Ausführungen des Landesarbeitsgerichts zur Anspruchsgrundlage Gesamtzusage und zur betrieblichen Übung bei. Eine unwirksame Betriebsvereinbarung kann zwar grundsätzlich in eine zulässige vertragliche Einheitsregelung umgedeutet werden. Die Umdeutung setzt jedoch voraus, daß die Arbeitnehmer nach Treu und Glauben aus dem Verhalten des Arbeitgebers auf einen entsprechenden Bindungswillen schließen konnten. Es müssen Umstände vorliegen, die die Annahme rechtfertigen, daß der Arbeitgeber bei Kenntnis der Unwirksamkeit die Leistung in Form einer Gesamtzusage erbracht hätte. Wenn das Landesarbeitsgericht derartige Umstände verneint, so ist das revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, zumal die Kläger insoweit keine Rügen erhoben haben. Dasselbe gilt für Ansprüche aus betrieblicher Übung. Eine Betriebsübung kann an die Stelle einer inhaltsgleichen normativen Regelung in einer unwirksamen Betriebsvereinbarung treten, wenn die Betriebsvereinbarung für den Betriebsrat und die Belegschaft erkennbar von Anfang an unwirksam war und der Arbeitgeber entsprechende Leistungen trotzdem gewährte. Die Bewertung des Landesarbeitsgerichts, daß diese Voraussetzungen im Streitfall nicht vorgelegen haben, sind nicht zu beanstanden und von den Klägern ungerügt geblieben.