Anrechnung von Tariflohnerhöhung und Mitbestimmungsrecht

BAG 1 ABR 35/87 vom 13. Feb. 1990

Nicht amtlicher Leitsatz

Nach der Entscheidung des Großen Senats vom 3.12.1991 GS 2/90 unterliegen die Anrechnung einer Tariflohnerhöhung auf über-/außertarifliche Zulagen und der Widerruf von über-/außertariflichen Zulagen aus Anlaß und bis zur Höhe einer Tariflohnerhöhung dann nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG der Mitbestimmung des Betriebsrats, wenn sich dadurch die Verteilungsgrundsätze ändern und darüber hinaus für eine anderweitige Anrechnung bzw. Kürzung ein Regelungsspielraum verbleibt. Dies gilt unabhängig davon, ob die Anrechnung durch gestaltende Erklärung erfolgt oder sich automatisch vollzieht.

Gründe

A. Arbeitgeber und Betriebsrat streiten darüber, ob der Betriebsrat nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG mitzubestimmen hat, wenn der Arbeitgeber eine Tariflohnerhöhung aufgrund eines Vorbehalts vollständig und gleichmäßig auf alle übertariflichen Zulagen anrechnet.

Bei dem Arbeitgeber handelt es sich um ein Unternehmen, das Präparate für die Haut- und Haarpflege herstellt und vertreibt. Er beschäftigt insgesamt 408 Mitarbeiter, davon 292 Angestellte und 116 gewerbliche Arbeitnehmer. Der Arbeitgeber ist Mitglied des Arbeitgeberverbandes der chemischen Industrie für Ostwestfalen/Lippe. Er wendet die einschlägigen Tarifverträge für die chemische Industrie auf die Arbeitsverhältnisse an. Der Arbeitgeber zahlt an die Mehrzahl seiner Arbeitnehmer freiwillige übertarifliche Zulagen, die sich zwischen 75,-- DM und 900,-- DM monatlich bewegen und bei denen er sich die Anrechnung von Tarifvergütungserhöhungen auf die Zulage vorbehalten hat. In den vom Arbeitgeber einheitlich formulierten Arbeitsverträgen für die gewerblichen Arbeitnehmer heißt es:

"... Der Bruttostundenlohn setzt sich wie folgt zusammen:

Bei einer evtl. gewährten freiwilligen Zulage handelt es sich um eine jederzeit nach freiem Ermessen widerrufliche Leistung, auf die auch bei wiederholter Gewährung kein Rechtsanspruch für die Zukunft besteht. Die Leistung kann auch jederzeit ganz oder teilweise auf die tariflichen Veränderungen und tariflichen Umgruppierungen angerechnet werden.

..."

Bei Angestellten heißt es in den von dem Arbeitgeber vorformulierten Schreiben:

"...

Somit setzt sich Ihr Brutto-Gehalt nunmehr wie folgt zusammen:

Tarifgehalt DM ...

+ freiwillige Zulage DM ...

Bitte haben Sie Verständnis dafür, daß wir uns vorbehalten müssen, ggf. die freiwillige Zulage bei Tarifänderungen zu verrechnen oder mit einer Frist von einem Monat zum jeweiligen Monatsende aufzukündigen.

..."

Aufgrund eines seit 1984 eingetretenen erheblichen Umsatzrückganges beschloß der Arbeitgeber, die Erhöhung der Tariflöhne und Gehälter in der chemischen Industrie von 4,5 % zum 1. August 1986 vollständig und gleichmäßig auf die gewährten Zulagen anzurechnen. Von dieser Entscheidung unterrichtete er den Betriebsrat.

Mit Schreiben vom 8. Juli 1986 erklärte er gegenüber den betroffenen Arbeitnehmern, daß er die angekündigte "Kürzung" vom 1. August 1986 an vornehmen werde.

Der Betriebsrat widersprach der Anrechnung der Tariflohnerhöhung auf die Zulagen und schlug vor, den durch die Anrechnung einzusparenden Betrag auf andere Weise zu erwirtschaften. Der Arbeitgeber blieb bei der Anrechnung. Deshalb hat der Betriebsrat das Beschlußverfahren eingeleitet und beantragt festzustellen, daß die Anrechnung der übertariflichen Zulage ab 1. August 1986 auf die Tariflohnerhöhung mitbestimmungspflichtig ist.

Der Arbeitgeber hat beantragt, den Antrag abzuweisen. Zur Begründung hat er ausgeführt, er habe weder die übertariflichen Zulagen widerrufen noch die Tariflohnerhöhung angerechnet, sondern habe lediglich den Tarifvertrag durchgeführt, indem er den Arbeitnehmern mitgeteilt habe, daß sich nunmehr ihr Effektivlohn/Gehalt aufgrund der Erhöhung des tariflichen Anteils anders zusammensetze als bisher. Wie der Vierte Senat im Urteil vom 3. Juni 1987 zutreffend festgestellt habe, entspreche es der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, daß übertarifliche Löhne durch Tariflohnerhöhungen nicht berührt werden, es sei denn, durch eine übertarifliche Zulage sollten besondere Leistungen abgegolten werden. Im übrigen habe der Vierte Senat überzeugend dargelegt, eine Anrechnung der Tariflohnerhöhung auf die übertarifliche Zulage bedürfe keiner Entscheidung des Arbeitgebers, sondern trete automatisch ein.

Das Arbeitsgericht hat den Antrag abgewiesen. Die Beschwerde des Betriebsrats blieb erfolglos. Mit der Rechtsbeschwerde verfolgt der Betriebsrat seinen bisherigen Antrag weiter, während der Arbeitgeber bittet, die Rechtsbeschwerde zurückzuweisen. Der erkennende Senat hat die Auffassung vertreten wollen, daß auch bei einer vollen und gleichmäßigen Anrechnung von Tariflohnerhöhungen auf übertarifliche Zulagen ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG besteht und hat wegen der entgegenstehenden Rechtsprechung des Vierten und Fünften Senats den Großen Senat zur Beantwortung der folgenden Fragen angerufen:

1. Unterliegt die Ausübung eines dem Arbeitgeber vorbehaltenen Widerrufs von übertariflichen Zulagen und/oder der Anrechnung einer Tariflohnerhöhung auf übertarifliche Zulagen der Mitbestimmung des Betriebsrats?

2. Für den Fall der Bejahung dieser Frage:

a) Ist der Arbeitgeber verpflichtet, bis zu einer Einigung mit dem Betriebsrat über die Neuverteilung des gekürzten Zulagenvolumens die Zulagen in der ursprünglichen Höhe fortzuzahlen?

b) Kann der Arbeitgeber die Zulage in der bisherigen Höhe unter dem Vorbehalt einer Verrechnung entsprechend der späteren Einigung mit dem Betriebsrat zahlen?

c) Kann der Arbeitgeber die einzelnen Zulagen vor der Einigung mit dem Betriebsrat im gleichen Verhältnis kürzen wie das Zulagenvolumen insgesamt unter dem Vorbehalt einer Verrechnung entsprechend der Einigung mit dem Betriebsrat?

Der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts hat durch Beschluß vom 3. Dezember 1991 die Fragen beantwortet.

B. Die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats ist nicht begründet.

I. Nach der Entscheidung des Großen Senats vom 3. Dezember 1991 unterliegen die Anrechnung einer Tariflohnerhöhung auf über-/außertarifliche Zulagen und der Widerruf von über-/außertariflichen Zulagen aus Anlaß und bis zur Höhe einer Tariflohnerhöhung dann nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG der Mitbestimmung des Betriebsrats, wenn sich dadurch die Verteilungsgrundsätze ändern und darüber hinaus für eine anderweitige Anrechnung bzw. Kürzung ein Regelungsspielraum verbleibt. Dies gilt unabhängig davon, ob die Anrechnung durch gestaltende Erklärung erfolgt oder sich automatisch vollzieht.

Auch bei einer Anrechnung der Tariflohnerhöhung auf die Zulagen um einen bestimmten Prozentsatz ändern sich nach dem Beschluß des Großen Senats in der Regel die Verteilungsgrundsätze. Das gilt insbesondere für den Fall, daß der Arbeitgeber unterschiedlich hohe Zulagen zum jeweiligen Tariflohn zahlt, sei es, daß diese in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen sollen, sei es, daß ein bestimmter Verteilungsgrundsatz - wie vorliegend - überhaupt nicht erkennbar ist. Denn in beiden Fällen ändert sich bei einer gleichmäßigen prozentualen Anrechnung einer Tariflohnerhöhung notwendigerweise das Verhältnis der Höhe der Zulagen zueinander. Eine solche Änderung des Verhältnisses stellt nach der Entscheidung des Großen Senats eine Änderung des Verteilungsgrundsatzes dar.

II. Auch bei der vollen Anrechnung der Tariflohnerhöhung auf alle Zulagen ändern sich die Verteilungsgrundsätze zumindest dann, wenn die Zulagen nicht in einem bestimmten und gleichen Verhältnis zum Tariflohn stehen. Dennoch besteht hier kein Mitbestimmungsrecht, weil für eine anderweitige Anrechnung ein Regelungsspielraum nicht verbleibt. Dementsprechend ist die Anrechnung mitbestimmungsfrei, wenn dadurch das Zulagenvolumen völlig aufgezehrt wird oder die Tariflohnerhöhung vollständig und gleichmäßig auf die über-/außertariflichen Zulagen angerechnet wird. Bei der vollständigen und gleichmäßigen Anrechnung der Tariflohnerhöhung auf die Zulagen aller Arbeitnehmer besteht für eine andere Verteilung ein rechtliches Hindernis. Dem Arbeitgeber fehlt, soweit das Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG reicht, jede weitere Gestaltungsmöglichkeit, denn mehr als die Tariflohnerhöhung kann er nicht anrechnen. Dies aber wäre erforderlich, wenn zugunsten eines Teils der Zulagenempfänger zu Lasten der übrigen eine Umverteilung stattfinden sollte. Der Arbeitgeber müßte einen Teil der übertariflichen Zulagen über die volle Anrechnung hinaus kürzen, um die Verteilung zu ändern. Dazu ist er aber nicht berechtigt, gleichgültig, ob die Kürzung des Zulagenvolumens aufgrund einer Automatik oder eines Anrechnungsvorbehalts erfolgt. Der einzelne Arbeitnehmer hat aufgrund der zugrundeliegenden Vereinbarung (Einzelarbeitsvertrag, Betriebsvereinbarung) einen Anspruch darauf, daß ihm nach einer Tariflohnerhöhung zumindest die um die Tariflohnerhöhung gekürzte Zulage gezahlt wird. Diesen Anspruch kann der Arbeitgeber nur durch eine von den Gerichten für Arbeitssachen überprüfbare ordentliche Änderungskündigung beseitigen. Für deren Wirksamkeit reicht in der Regel der Wille zur Umverteilung der Zulagen nicht aus. Besteht damit bei der vollständigen Anrechnung der Tariflohnerhöhung auf alle Zulagen keine rechtliche Möglichkeit einer anderen Verteilung, unterliegt aus diesem Grunde bei vollständiger und gleichmäßiger Anrechnung einer Tariflohnerhöhung auf über-/außertarifliche Zulagen - auch wenn die Verteilungsgrundsätze sich ändern - die Neuverteilung des um die Tariflohnerhöhung gekürzten Zulagenvolumens nicht der Mitbestimmung des Betriebsrats.

Da vorliegend die Tariflohnerhöhung vollständig auf alle Zulagen angerechnet worden ist, war die Rechtsbeschwerde nach den Grundsätzen, die der Große Senat im Beschluß vom 3. Dezember 1991 (a.a.O.) aufgestellt hat, zurückzuweisen.