Anrechnung von Tariflohnerhöhung

BAG 1 AZR 400/92 vom 26. Jan. 1993

Nicht amtlicher Leitsatz

1. Individualrechtlich zulässig ist es, eine Tariflohnerhöhung auf eine freiwillige übertarifliche Zulage anzurechnen, wenn diese nicht tariffest ist.

2. Wird ein Tarifanspruch gekürzt, so verstößt dies gegen die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrages.

3. Die Kürzung des tariflichen Anspruchs auf pauschale Einmalzahlung kann auch nicht in eine Anrechnung der Tariflohnerhöhung auf eine übertarifliche Zulage umgedeutet werden.

Tatbestand

Der Kläger ist als gewerblicher Arbeitnehmer bei der Beklagten, einem Unternehmen der metallverarbeitenden Industrie mit Sitz in Remscheid, beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden kraft beiderseitiger Tarifbindung die Tarifverträge der Metallindustrie in Nordrhein-Westfalen Anwendung. Durch Tariflohnabkommen vom 16. Mai 1991 wurden ab 1. Juni 1991 die Tariflöhne um 6,7 % erhöht und für die Monate April und Mai 1991 einmalige Zahlungen von jeweils 290,-- DM vereinbart. Die einmaligen Pauschalzahlungen wurden gemäß § 3 des Lohnabkommens mit der nächsten Gehaltszahlung, frühestens im Juni 1991, fällig. Der Kläger erhielt in den Monaten April und Mai 1991 eine in der Lohnabrechnung als "Festlohn" ausgewiesene Vergütung in Höhe von 2.575,40 DM brutto bei einer Arbeitszeit von 37,5 Wochenstunden. Darüber hinaus erhielt er eine sog. "Prämie" von 1.250,-- DM brutto auf der Grundlage einer im Betrieb der Beklagten mit Wirkung vom 1. April 1990 in Kraft getretenen Betriebsvereinbarung. Die monatliche Prämie wird in der Betriebsvereinbarung als "außertarifliche und variable Leistungszulage" bezeichnet.

Entsprechend der Tariflohnerhöhung erhöhte die Beklagte ab Monat Juni 1991 den Festlohn des Klägers um 6,7 % auf 2.748,18 DM brutto und zahlte auch die "Prämie" ab Juni 1991 in ungekürzter Höhe von 1.250,-- DM brutto weiter. Die tariflich vorgesehenen einmaligen Zahlungen für die Monate April und Mai 1991 von zweimal 290,-- DM = 580,-- DM brutto zahlte die Beklagte im Monat Juni 1991 nur in Höhe von 407,22 DM brutto an den Kläger aus. Der von der tariflich vorgesehenen Pauschalzahlung von 580,-- DM abgezogene Betrag von 172,78 DM brutto entspricht der Erhöhung des bisherigen Festlohns von 2.575,40 DM um 6,7 % im Monat Juni 1991 auf 2.748,18 DM (2.748,18 - 2.575,40 = 172,78). In entsprechender Weise kürzte die Beklagte bei allen Arbeitnehmern die Ansprüche auf tarifliche Pauschalleistungen für die Monate April und Mai 1991. Zwischen den Parteien ist unstreitig, daß ab dem Monat Juni 1991 die tarifliche Lohnerhöhung in vollem Umfang ohne Anrechnung auf übertarifliche Zulagen/Prämien/Leistungszulagen an den Kläger und die anderen Arbeitnehmer weitergegeben worden ist.

Der Betriebsrat wurde im Zusammenhang mit der Kürzung der tariflichen Pauschalleistung für die Monate April/Mai 1991 von der Beklagten nicht beteiligt. Die mit einer Kündigungsfrist von 4 Wochen zum Monatsende kündbare Betriebsvereinbarung vom 30. März 1990 ist von der Beklagten am 21. Juni 1991 gekündigt worden.

Mit seiner Klage hat der Kläger zunächst die Beklagte wegen der Kürzung der pauschalen Tariflohnerhöhung für die Monate April und Mai 1991 auf Zahlung von 160,-- DM nebst Zinsen in Anspruch genommen, diesen Betrag dann aber auf 159,74 DM reduziert.

Der Kläger hat geltend gemacht, eine Anrechnung der pauschalen Tariflohnerhöhung auf die Prämie sei unzulässig, weil es sich hierbei um eine Leistungszulage handele. Im übrigen habe eine Anrechnung nicht stattfinden können, weil er einen unmittelbaren und zwingenden Anspruch aus der Betriebsvereinbarung auf Zahlung einer Prämie von 1.250,-- DM habe. Im übrigen sei die Anrechnung aber auch unwirksam, weil der Betriebsrat nicht beteiligt worden sei.

Der Kläger hat vor dem Arbeitsgericht beantragt, die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger 160,-- DM brutto nebst 4 % Zinsen hieraus auf den sich ergebenden Nettobetrag seit Klagezustellung zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Zur Begründung hat sie vorgetragen, die Betriebsvereinbarung vom 30. März 1990 sei wegen Verstoßes gegen § 77 Abs. 3 BetrVG unwirksam. Die "Prämie", die in der Betriebsvereinbarung als Leistungszulage bezeichnet werde, sei in Wirklichkeit keine Leistungszulage, sondern eine freiwillige übertarifliche Leistung, auf die eine Tariflohnerhöhung angerechnet werden könne. Mit der in der Betriebsvereinbarung geregelten Zulage hätten nämlich übertarifliche Bestandteile aus dem ehemaligen Akkordsystem, das bei ihr bis 1989 gegolten habe, aufgefangen werden sollen. Die Bestandteile hätten sich aus zu langen Vorgabezeiten als Berechnungsgrundlage ergeben und seien von den Arbeitnehmern nicht beeinflußbar gewesen. Es handele sich somit um eine freiwillige Zulage ohne Leistungsbezug. Außerdem habe der Kläger in den Monaten April/Mai 1991 einen Festlohn erhalten, der um 29,06 DM brutto über dem Tariflohn liege, so daß in jedem Falle eine Anrechnung in Höhe von 58,12 DM (2 x 29,06 DM) zulässig gewesen sei. Nach Auffassung der Beklagten hat der Betriebsrat bei der Anrechnung nicht beteiligt werden müssen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen mit der Begründung, es handele sich vorliegend um eine übertarifliche und nicht um eine Leistungszulage, die Tatsache, daß diese Zulage ihren Rechtsgrund in einer Betriebsvereinbarung habe, hindere die Beklagte nicht an einer Anrechnung einer Tariflohnerhöhung, im übrigen erhalte der Kläger auch nach der Anrechnung einen Effektivlohn, der einschließlich einer etwaigen tariflichen Leistungszulage über dem Tariflohn liege. Auf die Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht das Urteil abgeändert und die Beklagte antragsgemäß verurteilt, an den Kläger 159,74 DM brutto nebst Zinsen zu zahlen. Mit der Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des Urteils des Arbeitsgerichts, während der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet.

I. Individualrechtlich zulässig ist es, eine Tariflohnerhöhung auf eine freiwillige übertarifliche Zulage anzurechnen, wenn diese nicht tariffest ist.

Um eine individualrechtlich zulässige Anrechnung einer Tariflohnerhöhung auf eine übertarifliche Zulage handelt es sich vorliegend nicht. Die Beklagte hat vielmehr die Tariflohnerhöhung von 6,7 %, die in dem Tariflohnabkommen für die Zeit ab 1. Juni 1991 vereinbart war, von dem bisherigen Festlohn in Höhe von 2.575,40 DM brutto errechnet und dem Kläger einen um die Tariflohnerhöhung von 6,7 % höheren Festlohn von 2.748,18 DM brutto ausgezahlt. Zugleich hat sie von den tariflich vereinbarten pauschalen Einmalzahlungen für die Monate April und Mai 1991 von insgesamt 580,-- DM (2 x 290,-- DM) einen Betrag abgezogen, der der Erhöhung des Festlohns um 6,7 % entspricht (172,78 DM), und nur einen Pauschalbetrag von 407,22 DM brutto statt 580,-- DM brutto an den Kläger ausgezahlt. Dagegen hat die Beklagte den Anspruch des Klägers auf die Zulage nach der Betriebsvereinbarung vom 30. März 1990 in Höhe von 1.250,-- DM sowohl in den Monaten April, Mai und Juni 1991 als auch danach in vollem Umfang erfüllt. Zu der Kürzung der pauschalen Einmalzahlungen hielt sich die Beklagte möglicherweise für berechtigt, weil die Pauschbeträge von je 290,-- DM für April und Mai die Tariflohnerhöhung von 6,7 % (172,78 DM) überstiegen. Dabei hat sie aber übersehen, daß es sich bei den Pauschalleistungen von je 290,-- DM für April und Mai 1991 jeweils um Ansprüche des Klägers aus dem Tarifvertrag handelte, sie also einen Tarifanspruch kürzte. Dies aber verstößt gegen die unmittelbare und zwingende Wirkung des Tarifvertrages (§ 4 Abs. 1 TVG). Diese Kürzung ist auch nicht auslegbar. Die Beklagte hat ausweislich der Lohnabrechnung für Juni 1991 eindeutig den Pauschbetrag von 580,-- DM brutto kürzen wollen und gekürzt. Dagegen hat sie nicht die übertarifliche Zulage aufgrund der Betriebsvereinbarung um die Tariflohnerhöhung gekürzt. Da sie hiervon auch in den Monaten April und Mai sowie in den Monaten ab Juni 1991 abgesehen hat, hat die Beklagte eindeutig nur die Pauschbeträge für die Monate April und Mai 1991 kürzen wollen.

II. Die Kürzung des tariflichen Anspruchs auf pauschale Einmalzahlung kann auch nicht in eine Anrechnung der Tariflohnerhöhung auf eine übertarifliche Zulage umgedeutet werden.

Da die Parteien trotz des unstreitigen Sachverhalts in den Vorinstanzen im wesentlichen darüber gestritten haben, ob eine Anrechnung der Tariflohnerhöhung auf eine übertarifliche Zulage zulässig sei und der Arbeitgeber hierbei den Betriebsrat beteiligen müsse, drängt sich die Frage auf, ob die unzulässige Kürzung des tariflichen Anspruchs nicht in die Anrechnung einer Tariflohnerhöhung auf eine übertarifliche Zulage umgedeutet werden kann. Das ist nicht der Fall.

Die Umdeutung eines nichtigen Rechtsgeschäfts setzt voraus, daß das nichtige Rechtsgeschäft zugleich alle erforderlichen Tatbestandsmerkmale eines wirksamen Geschäftes in sich schließt und daß diese Bestandteile von der Nichtigkeit nicht mitergriffen werden. Des weiteren muß das andere Geschäft geeignet sein, den von den Parteien mit dem nichtigen Rechtsgeschäft angestrebten wirtschaftlichen Erfolg ganz oder teilweise herbeizuführen. Außerdem ist eine Umdeutung nur innerhalb des vom nichtigen Rechtsgeschäft abgesteckten Rahmens zulässig, vor allem dürfen nicht vorhandene Tatbestandsmerkmale nicht fingiert werden.

Schon diese Voraussetzungen für eine Umdeutung liegen nicht vor. Bei dem Festlohn des Klägers, der pauschalierten Einmalzahlung für die Monate April und Mai 1991 sowie der "variablen Leistungszulage" aus der Betriebsvereinbarung handelt es sich nicht um unselbständige Rechnungsposten eines Gesamtlohns. Die Pauschalleistungen wurden gewährt als Tariflohnerhöhung für die Monate April und Mai, fällig ab 1. Juni 1991, dann trat hinzu eine Erhöhung des tariflichen Festlohns von 6,7 % ab Juni 1991 und unabhängig davon hatten die Arbeitnehmer der Beklagten einen Anspruch auf eine "variable Leistungszulage" aus einer Betriebsvereinbarung vom 30. März 1990. Diese Betriebsvereinbarung ist nicht wegen Verstoßes gegen § 77 Abs. 3 BetrVG unwirksam. Der Große Senat hat im angeführten Beschluß vom 3. Dezember 1991 entschieden, der Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG stehe einem Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG bei der Festlegung von Kriterien für über-/außertarifliche Zulagen nicht entgegen. Dieses Mitbestimmungsrecht kann sowohl durch formlose Regelungsabrede als auch durch Abschluß einer Betriebsvereinbarung ausgeübt werden. Bei jeder freiwilligen Zulage ist im Rahmen der mitbestimmungsfreien Vorgabe (insbesondere Zweck der Leistung) eine Entscheidung über die Verteilung zu treffen. Diese Verteilungsentscheidung unterliegt dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats. Zur Begründung hat das Bundesarbeitsgericht ausgeführt, es entspreche dem Wesen tariflicher Entgeltregelungen, daß diese nur Mindestbedingungen setzen. Damit könne die tarifliche Entgeltregelung im übertariflichen Bereich gerade diejenige Schutzwirkung nicht entfalten, um derentwillen dem Betriebsrat bei der Lohngestaltung Mitbestimmungsrechte eingeräumt worden seien. Die tarifliche Entgeltregelung könne die Durchsichtigkeit der tatsächlichen betrieblichen Lohngestaltung nicht bewirken und innerbetriebliche Lohngerechtigkeit im übertariflichen Bereich nicht gewährleisten. Das Bundesarbeitsgericht hat also in ständiger Rechtsprechung die Verteilungsentscheidung als Frage der betrieblichen Lohngestaltung im Sinne von § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG angesehen und dem Schutzzweck von § 87 Abs. 1 BetrVG entsprechend angenommen, dort, wo ein Regelungsspielraum bestehe, habe der Betriebsrat bei dieser betrieblichen Lohngestaltung mitzubestimmen, um auf diese Weise eine möglichst große innerbetriebliche Lohngerechtigkeit und Transparenz des Lohngefüges zu erreichen.

Durch die vorliegende Betriebsvereinbarung haben die Betriebsparteien nicht nur geregelt, daß die Arbeitnehmer eine "außertarifliche und variable Leistungszulage" erhalten, sondern zugleich eine Verteilungsentscheidung getroffen, diese korrespondiert mit den neun tariflichen Lohngruppen; dabei haben die Betriebsparteien dem Leistungsprinzip in zweierlei Hinsicht Rechnung getragen: Der Betrag der Zulage wächst ausgehend von der Tariflohngruppe 3 hin zur Lohngruppe 9 von 1.000,-- DM auf 1.500,-- DM. Außerdem werden die Abstände der Zulagen im oberen Bereich der Lohngruppen höher. Während der Abstand zunächst von Lohngruppe zu Lohngruppe 50,-- DM beträgt, steigt er dann auf 100,-- DM und schließlich auf 150,-- DM.

Ist die Betriebsvereinbarung dementsprechend wirksam, haben die Arbeitnehmer einen unmittelbaren Anspruch auf die Zulage aufgrund der unmittelbaren und zwingenden Wirkung der Betriebsvereinbarung (§ 77 Abs. 4 BetrVG), solange die Betriebsvereinbarung in Kraft ist. Zum Zeitpunkt der "Anrechnung" war sie noch nicht gekündigt. Der Anspruch aus der Betriebsvereinbarung ist kein Anspruch aus dem Arbeitsvertrag oder dem Tarifvertrag, sondern ein Anspruch aufgrund eigener Rechtsquelle. Dann ist die aufgrund der Betriebsvereinbarung gezahlte Zulage auch kein unselbständiger Rechnungsposten, der mit einem anderen Teil des Entgelts bei einer Kürzung bzw. Anrechnung beliebig ausgetauscht werden könnte. Daran scheitert bereits eine Umdeutung der nichtigen Kürzung der tariflichen Einmalzahlung in eine Anrechnung der tariflichen Pauschalleistung auf die übertarifliche Zulage.

Da die Beklagte die Zulage aufgrund der Betriebsvereinbarung auch während der Monate April, Mai und Juni 1991 sowie danach ungekürzt weitergezahlt hat, kann auch nicht davon ausgegangen werden, daß sie bei Kenntnis der Unwirksamkeit der Kürzung des tariflichen Pauschallohns einen Teil des tariflichen Anspruchs auf Einmalzahlung auf die übertarifliche Zulage angerechnet hätte. Auch die subjektiven Voraussetzungen für eine Umdeutung liegen daher nicht vor.