ArbG Berlin Az. 41 Ca 3322/22 vom 22. Sep. 2022
Leitsatz
Kündigt der Arbeitgeber mit Zustimmung des Integrationsamts einem (schwer-)behinderten Menschen und gewinnt der Arbeitgeber rechtskräftig den Kündigungsschutzprozess des Arbeitnehmers, kann der Arbeitnehmer die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen, wenn der Zustimmungsbescheid später rechtskräftig aufgehoben wird.
Tenor
I. Das Versäumnisurteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 07.07.2022 - 41 Ca 3322/22 - wird aufrechterhalten.
II. Die Klägerin trägt die weiteren Kosten des Rechtsstreits.
III. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 9.000,00 € festgesetzt.
Tatbestand
Die Parteien streiten im Rahmen einer Restitutionsklage über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung vom 21. April 2020.
Die zum Zeitpunkt der Kündigung mit einem GdB (Grad der Behinderung) von 50 % schwerbehinderte Klägerin war seit dem 01. August 2016 bei der Beklagten bei einem Monatseinkommen in Höhe von 3.000,00 € brutto beschäftigt.
Die Beklagte erhielt auf Antrag die Zustimmung des Integrationsamtes nach § 168 SGB IX (Sozialgesetzbuch IX) für eine ordentliche Kündigung der Klägerin.
Mit Schreiben vom 21. April 2020 kündigte die Beklagte der Klägerin zum 31.Mai 2020, hilfsweise zum nächstmöglichen Termin.
Mit Klage vom 11. Mai 2020 erhob die Klägerin dagegen Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht Berlin - 41 Ca 6101/20. Mit Urteil vom 30. Juli 2020 entschied das Arbeitsgericht, dass die Kündigung das Arbeitsverhältnis mit Ablauf des 30. Juni 2020 beendet hat. Die hiergegen eingelegte Berufung der Klägerin wurde durch Sachurteil des LAG (Landesarbeitsgericht) Berlin-Brandenburg vom 03.03.2021 - 23 Sa 1220/20 rechtskräftig zurückgewiesen.
Am 04. März 2022 entschied das VG (Verwaltungsgericht) Berlin - VG 22 K 31/22 -, dass der zustimmende Bescheid des Integrationsamtes wegen fehlerhafter Ermessensausübung rechtswidrig sei.
Am 23. März 2022 fand in einem weiteren, Zahlungsansprüche betreffenden Berufungsverfahren vor dem LAG Berlin-Brandenburg - 4 Sa 1445/21 - eine Berufungsverhandlung statt. Zum Zeitpunkt der Berufungsverhandlung lag beiden Parteien das Urteil des VG Berlin vom
04. März 2022 vor. In der Verhandlung am 23. März 2022 vor dem LAG Berlin-Brandenburg schlossen die Parteien folgenden Vergleich:
"1. Die Beklagte verpflichtet sich, an die Klägerin zum Ausgleich der Klageforderung 1.000,00 Euro brutto (Eintausend) zu zahlen.
2. Damit sind sämtliche gegenseitigen Ansprüche der Parteien aus diesem Rechtsstreit und dem beendeten Arbeitsverhältnis ausgeglichen.
3. Damit ist der vorliegende Rechtsstreit erledigt.
4. Für die Kosten erster Instanz verbleibt es bei der Entscheidung im angefochtenen Urteil, die Kosten zweiter Instanz werden gegeneinander aufgehoben."
Die Klägerin macht im Wege der Restitutionsklage vom 07. April 2022, eingegangen beim Arbeitsgericht Berlin am 07. April 2022, die Unwirksamkeit der Kündigung vom 21.04.2020 geltend. Die Klage wurde adressiert an das "Arbeitsgericht Berlin".
Die Klägerin ist der Ansicht, dass es im Vergleich vor dem LAG Berlin-Brandenburg am
23. März 2022 ausschließlich um Zahlungsansprüche der Klägerin gegangen sei. Die Rede von einem "beendetem Arbeitsverhältnis" in Ziffer 2. des Vergleichs beziehe sich lediglich auf das vorangegangene Urteil des LAG Berlin-Brandenburg im Kündigungsschutzprozess und betreffe nur den rechtlichen Zustand am 23. März 2022. Die Klägerin habe sich damit nicht ihres Rechts begeben, eine Restitutionsklage zu erheben.
Die Klägerin beantragte,das Urteil des Arbeitsgerichtes Berlin vom 30. Juli 2020, Az.: 41 Ca 6101/20 in Form des Berufungsurteils des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 3. März 2021, Az.: 23 Sa 1220/20, abzuändern und festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 21. April 2020 zum 31. Mai 2020 oder zum 30. Juni 2020 beendet wurde, sondern unbefristet fortbesteht.
Die Beklagte beantragte, die Klage abzuweisen.
Gegen die Klägerin erging am 07. Juli 2022 ein klageabweisendes Versäumnisurteil.
Dieses wurde dem Klägervertreter am 14. Juli 2022 zugestellt. Der Klägervertreter legte mit Schriftsatz vom 19. Juli 2022, eingegangen bei Gericht am 19. Juli 2022, Einspruch ein.
Der Klägervertreter begründete den Einspruch insbesondere damit, dass die Zuständigkeit des erstinstanzlichen Gerichts durch ein rügeloses Einlassen des Beklagtenvertreters begründet worden sei.
Die Klägerin beantragt, das Versäumnisurteil vom 07. Juli 2022 aufzuheben und das Urteil des Arbeitsgerichtes Berlin vom 30. Juli 2020, Az.: 41 Ca 6101/20 in Form des Berufungsurteils des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 3. März 2021, Az.: 23 Sa 1220/20, abzuändern und festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 21. April 2020 zum 31. Mai 2020 oder zum
30. Juni 2020 beendet wurde, sondern unbefristet fortbesteht.
Die Beklagte beantragt,das Versäumnisurteil aufrechtzuerhalten.
Die Beklagte schließt sich den Bedenken des Gerichts gegen die Zulässigkeit einer Klage vor dem Arbeitsgericht an. Sie habe sich auch nicht rügelos auf die Klage eingelassen.
In der Sache habe die Klägerin sich durch den Vergleich am 23. März 2022 in beidseitiger Kenntnis der Aufhebung des Zustimmungsbescheids des Integrationsamtes der Möglichkeit einer Restitutionsklage begeben. Im Vergleich sei ausdrücklich von einem "beendeten Arbeitsverhältnis" die Rede und die Beklagte sei auch nur deshalb zur Zahlung von 1.000,00 € bereit gewesen, um alle gegenseitigen Ansprüche zu erledigen und das Arbeitsverhältnis zu beenden. Man habe daher auch keine Berufung gegen das Urteil des VG eingelegt.
Für den weiteren Sach- und Streitstand wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
Gründe
A.
Der eingelegte Einspruch ist form- und fristgerecht, § 46 Absatz 2 ArbGG (Arbeitsgerichtsgesetz) in Verbindung mit §§ 338, 339 ZPO (Zivilprozessordnung).
B.
Das klageabweisende Versäumnisurteil war aufrechtzuerhalten, § 46 Absatz 2 ArbGG in Verbindung mit § 343 Satz 1 ZPO.
Die auslegungsbedürftige Klage ist unzulässig, § 79 Satz 1 ArbGG in Verbindung mit § 584 Absatz 1 Halbsatz 2 ZPO.
Auf den Streit der Parteien, ob durch den Vergleich vom 23. März 2022 vor dem LAG Berlin-Brandenburg - 4 Sa 1445/21 - die Klägerin auf die Geltendmachung eines Restitutionsgrundes verzichtet hat, kommt es nicht an.
I.
Die Klage ist auslegungsbedürftig.
1.
Die Klage ist ausdrücklich an das Arbeitsgericht Berlin adressiert. Es finden sich in der Klagebegründung keine Hinweise darauf, dass die Klage vor dem LAG Berlin-Brandenburg erhoben werden soll. Dazu reicht es nicht aus, dass die Klägerin beantragt, dass das Berufungsurteil des LAG Berlin-Brandenburg aufgehoben werden soll, zumal im Klageantrag gleichzeitig vom erstinstanzlichen Urteil die Rede ist.
2.
Der Klageantrag ist unklar gefasst ("in Form des"). Nach § 587 ZPO muss das angegriffene Urteil bezeichnet sein. Hier ist unklar, ob die Klägerin die Wiederaufnahme des erstinstanzlichen und des zweitinstanzlichen Verfahrens beantragt oder nur die Wiederaufnahme des zweitinstanzlichen Verfahrens mit dem Ziel der Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils durch das LAG Berlin-Brandenburg und Entscheidung im Sinne der Klägerin.
Hat wie hier das Berufungsurteil denselben Streitgegenstand wie das erstinstanzliche Urteil lautet ein Restitutionsantrag schlicht: "das rechtskräftige Urteil des LAG ... vom ... AZ ... aufzuheben" (vergleiche entsprechend Almuth, unter anderem in: Saenger/Ullrich/Siebert, ZPO, kommentierte Prozessformulare, 5. Auflage 2021, § 580 ZPO Muster; vergleiche zum Beispiel auch BAG (Bundesarbeitsgericht) 29.09.2011 - 2 AZR 674/10 Randnummer 6 = AP Nummer 16 zu § 580 ZPO). Der Restitutionsantrag nach § 580 ZPO ist keine Anfechtungsklage im Sinne des § 79 Absatz 1 Nummer 1 VwGO (Verwaltungsgerichtsordnung), wonach Gegenstand der Anfechtungsklage der "ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat" ist.
Die Klägerin beabsichtigt zwar die Beseitigung sowohl des erst- wie auch des zweitinstanzlichen Urteils. Dazu reicht aber die Wiederaufnahme des zweitinstanzlichen Verfahrens trotz Rechtskraft des Berufungsurteils unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils aus. Der Klageantrag ist daher vorliegend sinnvoll dahingehend auszulegen, dass lediglich die Wiederaufnahme des Berufungsurteils begehrt wird und die Nennung des erstinstanzlichen Urteils nur der näheren Kennzeichnung des angegriffenen Berufungsurteils dient.
II.
Die erhobene Restitutionsklage ist unzulässig.
1.
Zwar macht die Klägerin einen Restitutionsgrund gemäß § 580 Nummer 6 ZPO geltend (vergleiche BAG 25.11.1980 - 6 AZR 210/80 - juris Ls. = NJW 1981, 2023: "Der Restitutionsgrund des ZPO
§ 580 Nummer 6 ist gegeben, wenn der Zustimmungsbescheid ... zur Kündigung eines Schwerbehinderten ... im verwaltungsgerichtlichen Verfahren rechtskräftig aufgehoben wird, zuvor aber das Arbeitsgericht wegen der Zustimmung die Wirksamkeit der Kündigung festgestellt hat.").
2.
Die Klage ist jedoch unzulässig, da sie nach § 584 Absatz 1 Halbsatz 2 ZPO beim LAG Berlin-Brandenburg hätte erhoben werden müssen.
2.1
§ 584 Absatz 1 ZPO ist vorliegend anwendbar.
Nach § 79 Satz 1 ArbGG geltend die Vorschriften der ZPO über die Wiederaufnahme des Verfahrens für Rechtsstreitigkeiten nach § 2 Absatz 1 bis Absatz 4 ArbGG entsprechend. Ein Kündigungsrechtsstreit ist eine Rechtsstreitigkeit nach § 2 Absatz 1 Nummer 3b) ArbGG. Die Restitutionsklage ist nach § 578 Absatz 1 ZPO eine Form der Wiederaufnahme des Verfahrens.
2.2
Nach § 584 Absatz 1 Halbsatz 2 ZPO ist im vorliegenden Fall für die Restitutionsklage allein das LAG Berlin-Brandenburg zuständig.
Nach § 584 Absatz 1 ZPO ist für Restitutionsklagen das Berufungsgericht "ausschließlich zuständig", wenn das "angefochtene Urteil oder auch nur eines von mehreren angefochtenen Urteilen von dem Berufungsgericht erlassen wurde".
Hier hat das LAG Berlin-Brandenburg als Berufungsinstanz am 03. März 2021 ein Sachurteil gefällt.
Hat das Berufungsgericht in der Sache entschieden, "ist für die Wiederaufnahmeklage nur das Berufungsgericht zuständig; etwaige Mängel des erstinstanzlichen Urteils sind im erneuten Berufungsverfahren zu beheben" (Zöller/Greger, ZPO, 34. Auflage 2022, § 584 Randnummer 2).
Selbst wenn man hier zugleich auch das erstinstanzliche Urteil angegriffen sähe, wäre bei Geltendmachung desselben Wiederaufnahmegrundes - wie hier - allein das Berufungsgericht zuständig (Musielak/Voit, ZPO, 19. Auflage 2022, § 584 Randnummer 5 mit weiteren Nachweisen; vergleiche auch LAG Hamm 08.03.2018 - 8 Sa 1350/17 - juris Randnummer 34).
2.3
Die Zuständigkeit des erstinstanzlichen Arbeitsgerichts ist auch nicht durch ein rügeloses Einlassen der Beklagten begründet worden, § 40 ZPO. Nach § 40 Absatz 2 Satz 2 ZPO kann in Fällen eines ausschließlichen Gerichtsstandes durch ein rügeloses Einlassen keine vom Gesetz abweichende Zuständigkeit begründet werden. Die Zuständigkeit nach § 584 Absatz 1 ZPO ist eine ausschließliche Zuständigkeit. Dies schon nach dem eindeutigen Wortlaut ("Für die Klagen ist ausschließlich zuständig: ...") (vergleiche auch BAG 12.04.1984 - 2 AS 1/83 - juris Randnummer 8; Zöller/Greger, ZPO, 34 Auflage 2022, § 584 Randnummer 1).
3.
Es kann offenbleiben, ob die Frist des § 586 Absatz 1 ZPO auch dann gewahrt wird, wenn der Rechtsstreit innerhalb der Frist fälschlich erstinstanzlich statt bei der Berufungsinstanz anhängig gemacht wird.
3.1
Nach § 281 Absatz 1 ZPO kann ein unzuständiges Gericht auf Antrag der klägerischen Partei den Rechtsstreit an das zuständige Gericht verweisen.
3.2
Auch wahrt nach herrschender (oder "allgemeiner" (so MünchKomm/Prütting, ZPO, 6. Auflage 2020, § 281 ZPO Randnummer 43)) Meinung die Klage vor einem unzuständigen Gericht eine gesetzliche Ausschlussfrist, auch wenn der Rechtsstreit erst nach Ablauf der Ausschlussfrist beim zuständigen Gericht eingeht wird und es um eine ausschließliche Zuständigkeit geht (vergleiche MünchKomm/Prütting, ZPO, 6. Auflage 2020, § 281 ZPO Randnummer 43; BGH (Bundesgerichtshof) 21.09.1961 - III ZR 120/60 - juris Randnummer 9 fortfolgende = BGHZ 35, 374 = NJW 1961, 2259; Zöller/Greger, ZPO, 34. Auflage 2022, § 586 Randnummer 2; für das WEG-Recht: BGH 17.09.1998 - V ZB 14/98 - juris Randnummer 9 = BGHZ 139, 305 = NJW 1998, 3648; Bayerisches Oberstes Landesgericht 13.09.1968 - Breg 2 Z 22/68 - juris Ls. = NJW 1969, 191; für den Arbeitsgerichtsprozess BAG 20.08.2002 - 3 AZR 133/02 - Randnummer 29 = NZA 2003, 453; für das sozialgerichtliche Verfahren BSG 12.11.1969 - 4 RJ 117/69 = NJW 1970, 966; a.A. OLG (Oberlandesgericht) Braunschweig 12.10.1988 - 3 W 2/88 - juris = MDR 1989, 915 und die frühere RG-Rechtsprechung).
3.3
Kommt es allerdings nicht zu einer Verweisung, sondern zu einem erstinstanzlichen klageabweisenden Urteil, so kommt die die klägerische Partei privilegierende Rechtsprechung nicht zur Anwendung: Der Grundsatz der Verfahrenseinheit gilt für die Verweisung (oder für den Fall einer formlosen Abgabe), nicht aber für den Fall einer Berufung (vergleiche LAG Hamm 08.03.2018 - 8 Sa 1350/17 - juris Leitsatz: "Die Erhebung der Restitutionsklage bei einem nach
§ 584 Absatz 1 ZPO unzuständigen Gericht wahrt die Klagefrist des § 586 Absatz 1 ZPO nicht, wenn eine Verweisung oder Abgabe an das zuständige Gericht unterbleibt", folgend: Musielak/Voit, 19. Auflage 2022, § 586 ZPO Randnummer 5).
3.4
Die Frage nach der Wahrung der Frist stellt sich jedoch hier nicht, weil die Klägerin keinen Verweisungsantrag gestellt hat und eine Verweisung nicht von Amts wegen erfolgen darf.
3.4.1
Der Klägervertreter ließ nach dem Hinweis des Gerichts, dass es sich nach § 584 ZPO für unzuständig erachte, ein Versäumnisurteil gegen sich ergehen. In der Einspruchsbegründung beharrte die Klägerseite auf eine erstinstanzliche Zuständigkeit, begründet mit einem rügelosen Einlassen der Gegenseite. Ein Verweisungsantrag wurde nicht gestellt.
3.4.2
Eine Verweisung erfolgt auch nicht von Amts wegen, § 281 Absatz 1 Satz 1 ZPO.
4.
Die Nebenentscheidungen folgen aus § 46 Absatz 2 ArbGG in Verbindung mit § 91 ZPO, § 42 Absatz 2 GKG (Gerichtskostengesetz).