Frühzeitig handeln – statt abwarten
Das Präventionsverfahren gemäß § 167 Abs. 1 Sozialgesetzbuch IX bietet eine wichtige Möglichkeit, den Arbeitsplatz schwerbehinderter und gleichgestellter Beschäftigter zu sichern, bevor es zu ernsten Problemen kommt. Es handelt sich dabei um einen lösungsorientierten Prozess, der Arbeitgeber, Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung (SBV) dazu einlädt, gemeinsam nach tragfähigen Lösungen zu suchen. Der Fokus liegt darauf, frühzeitig auf Schwierigkeiten wie gesundheitliche Verschlechterungen oder betriebliche Veränderungen zu reagieren und durch Anpassungen am Arbeitsplatz oder der Arbeitszeit eine nachhaltige Integration zu ermöglichen.
Warum das Präventionsverfahren den Arbeitsplatz (schwer-)behinderter Menschen sichert
Wenn es am Arbeitsplatz hakt, ist Abwarten selten eine gute Idee – besonders bei schwerbehinderten oder gleichgestellten Beschäftigten. Das Sozialgesetzbuch IX verpflichtet Arbeitgeber, früh aktiv zu werden und ein Präventionsverfahren einzuleiten. Dieses Verfahren ist kein bürokratischer Akt, sondern ein gemeinsamer, lösungsorientierter Prozess.
Ziel: Den Arbeitsplatz sichern, bevor es zu ernsten Problemen kommt.
1. Was steckt hinter dem Präventionsverfahren?
Das Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX ist eine gesetzliche Pflicht, die zugleich eine Chance bietet, den Arbeitsplatz langfristig zu sichern. Es greift, sobald Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis eines schwerbehinderten oder gleichgestellten Menschen auftreten, etwa durch gesundheitliche Einschränkungen, Konflikte oder betriebliche Veränderungen.
Im Verfahren suchen Arbeitgeber, Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung (SBV) gemeinsam nach Lösungen, um den Arbeitsplatz zu erhalten. Das Verfahren ist flexibel gestaltet und lässt sich an jede Situation anpassen – sei es eine gesundheitliche Verschlechterung, ein Teamkonflikt oder betriebliche Veränderungen.
Die Stärke des Verfahrens: Es geht nicht um Schuldzuweisungen oder Disziplinarmaßnahmen, sondern um Lösungen und Perspektiven.
2. Wann sollte das Präventionsverfahren starten?
Das Gesetz verlangt: "Beim Eintreten von Schwierigkeiten, die das Arbeitsverhältnis gefährden können, muss der Arbeitgeber tätig werden." Das bedeutet: Frühzeitig aktiv werden, nicht erst, wenn die Kündigung schon im Raum steht.
Typische Signale sind:
- Gesundheitliche Verschlechterungen, die die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen
- Häufige oder lange Arbeitsunfähigkeiten
- Verhaltensprobleme oder Konflikte
- Betriebliche Veränderungen wie Umstrukturierungen oder Arbeitsplatzabbau
Eine gelebte inklusive Unternehmenskultur verhindert viele Probleme von vornherein, etwa durch:
- Ergonomische Arbeitsplätze
- Barrierefreie Prozesse
- Weiterbildungsangebote
- Offene Gesprächskultur
Doch wenn sich Schwierigkeiten abzeichnen, ist das Präventionsverfahren der richtige Schritt – unabhängig von Betriebsgröße oder Beschäftigungspflicht.
3. Wer ist am Präventionsverfahren beteiligt?
Das Präventionsverfahren funktioniert nur, wenn alle Beteiligten zusammenarbeiten. Es ist eine Teamarbeit:
- Arbeitgeber – leitet das Verfahren ein
- Betroffene Person – ihre Situation steht im Mittelpunkt
- SBV und Betriebs-/Personalrat – beraten, begleiten, sichern Rechte
- Integrations-/Inklusionsamt – berät fachlich, fördert finanziell (der Integrationsfachdienst unterstützt bei Bedarf)
- Weitere (optionale) Fachleute – Betriebsarzt, Sicherheitsfachkraft oder externe Experten
Wichtig ist, dass alle Beteiligten offen miteinander sprechen. Nur so lassen sich realistische Lösungen finden, etwa durch Arbeitsplatzanpassungen, flexible Arbeitszeiten oder technische Hilfsmittel.
Die SBV spielt dabei eine Schlüsselrolle: Sie kennt die individuellen Bedürfnisse der betroffenen Person, achtet auf faire Abläufe, sorgt für Kommunikation auf Augenhöhe und stellt sicher, dass die betroffene Person in alle Entscheidungsprozesse einbezogen wird. Darüber hinaus hat die SBV ein Mitbestimmungsrecht im Rahmen des Verfahrens.
4. So läuft das Präventionsverfahren ab
Das Verfahren startet mit der Initiative des Arbeitgebers – idealerweise, sobald erste Anzeichen einer Gefährdung erkennbar sind. Zwar kann es auch ohne Zustimmung der betroffenen Person eingeleitet werden, doch wirklich tragfähige Lösungen entstehen nur mit ihrer aktiven Beteiligung. Diese ist ein entscheidendes Element des Verfahrens, um faire und wirksame Lösungen zu finden.
In der Praxis sieht der Ablauf typischerweise so aus:
- Erkennen der Probleme durch den Arbeitgeber
- Einladung der Beteiligten (SBV, BR, etc.)
- Situation klären: Ursachen und Lösungswege erarbeiten
- Maßnahmen festlegen (z. B. Schulungen, Konfliktmoderation, Arbeitszeitgestaltung)
- Umsetzen und Prüfen: Wirksamkeit der vereinbarten Maßnahmen wird regelmäßig bewertet
Das Ziel bleibt immer gleich: Den Arbeitsplatz erhalten. Gleichzeitig stärkt das Verfahren Kommunikation, Vertrauen und Zusammenarbeit – ein echter Mehrwert für den gesamten Betrieb.
5. Unterstützung durch Integrations- bzw. Inklusionsamt
Das Integrations- oder Inklusionsamt kann Arbeitgebern wertvolle Unterstützung bieten. Sie beraten nicht nur zu möglichen Maßnahmen, sondern stellen auch finanzielle Hilfen zur Verfügung, etwa für technische Anpassungen oder Weiterbildung. Falls nötig, kann das Amt auch den Integrationsfachdienst (IFD) hinzuziehen, der Verfahren fachlich begleitet, moderiert oder konkrete Vorschläge entwickelt.
👉 Unser Praxistipp: Auf den Internetseiten der Ämter finden Arbeitgeber, SBV und BR Kontaktformulare für Präventions- oder BEM-Fälle, über die datengeschützt und strukturiert Informationen übermittelt werden können.
Prävention und Kündigungsschutz
Das Verfahren ist zwar keine formale Voraussetzung für eine Kündigung, aber es spielt eine entscheidende Rolle im Kündigungsschutz. Wenn der Arbeitgeber das Verfahren nicht rechtzeitig startet, kann das die Position des betroffenen Mitarbeiters erheblich schwächen. Wird die Kündigung später vor Gericht angefochten, muss der Arbeitgeber nachweisen, dass eine Kündigung wirklich unvermeidbar war und dass er vorher alle milderen Lösungen, wie das Präventionsverfahren, geprüft hat. In der Praxis wird es für den Arbeitgeber schwierig, dies zu belegen – und genau hier kommen viele Kündigungen ins Straucheln.
Zudem konkretisiert § 167 Abs. 1 SGB IX den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: Eine Kündigung ist nicht sozial gerechtfertigt, wenn es im Rahmen des Präventionsverfahrens Möglichkeiten gab, das Arbeitsverhältnis auf eine andere Weise zu retten.
Aktuelle Rechtsprechung: Kein Präventionsverfahren in Probezeit & Kleinbetrieben?
Für Aufsehen sorgte zuletzt eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 3. April 2025 (Az. 2 AZR 178/24). In den ersten sechs Monaten eines Arbeitsverhältnisses (Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG) besteht keine Pflicht zur Durchführung eines Präventionsverfahrens. Trotzdem gilt: Frühe Kommunikation und Unterstützung lohnen sich auch in dieser Phase.
Fazit: Prävention heißt Inklusion leben
Das Präventionsverfahren ist weit mehr als nur eine gesetzliche Pflicht. Es zeigt, dass Unternehmen Verantwortung für Inklusion und Chancengleichheit übernehmen. Wer früh handelt, vermeidet Konflikte, spart Kosten und schafft gleiche Chancen für alle im Arbeitsleben.
Für die SBV bedeutet das:
- Bleiben Sie aufmerksam und erkennen Sie frühzeitig mögliche Probleme.
- Regen Sie das Präventionsverfahren schnell an, wenn Sie Anzeichen für Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis sehen.
- Arbeiten Sie eng mit dem Arbeitgeber und dem Betriebsrat zusammen, um Lösungen zu entwickeln, die den Arbeitsplatz sichern.
- Setzen Sie sich dafür ein, dass alle Beteiligten gut informiert sind und die Rechte der betroffenen Person gewahrt bleiben.
- Stellen Sie sicher, dass die betroffene Person aktiv in das Verfahren eingebunden wird – ihre Meinung zählt!
Denn am Ende zählt: Kein Arbeitsplatz darf wegen einer Behinderung gefährdet werden.