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Ein Interview: Wie Vielfalt Unternehmen voranbringt

7 Minuten Lesezeit
17.01.2025

Claudia Gersdorf arbeitete bei Ärzte ohne Grenzen und war sieben Jahre lang Pressesprecherin der bekannten internationalen Wasserinitiative und Social Business Viva con Agua. Sie unterstützte zahlreiche weitere Projekte im Bereich Inklusion und ganzheitliche Nachhaltigkeit und war nicht zuletzt Mitbegründerin des Betriebsrats bei Oxfam. Dabei war ihr Start ins Leben holprig. 30 Minuten Sauerstoffmangel bei ihrer Geburt schädigten das Kleinhirn und resultierten in einer Körperbehinderung.

Heute ist Claudia Gersdorf CEO ihrer eigenen Unternehmensberatung und langerprobte Menschenrechtsaktivistin. Mit ihr als Stimme für Inklusion und ganzheitliche Nachhaltigkeit sprechen wir über positives Denken und Motivation.

Interview persönliche Herausforderungen

W.A.F.: „Wie sind Sie zu einer öffentlichen Person geworden und wie erinnern Sie sich an den Start Ihrer Karriere?“

CG: „Das war meine größte Mutprobe und Herausforderung im Leben, daran kann ich mich auch noch gut erinnern. Als ich Mitte zwanzig war, habe ich als Absolventin von zwei Studienabschlüssen 80 Bewerbungen geschrieben und immer meine Schwerbehinderung mit angegeben. Immerhin wurde damit ja auch „gelockt“. Doch letztlich habe ich dann sehr schlechte Erfahrungen gemacht und habe versucht, das Thema „Behinderung“ zu umschiffen.“

W.A.F.: „Was brachte die Wende?“

CG: „Das war ich selbst. Ich wollte bei Ärzte ohne Grenzen arbeiten. Nach drei erfolglosen Bewerbungen fuhr ich ohne Einladung nach Berlin, habe mich dort ins Büro gesetzt und gesagt, ‚Ich will für Euch arbeiten‘. Das hat der Geschäftsleitung gefallen und nach einer Woche Probearbeit haben sie mich übernommen. Mir ist klar, dass das eben meine persönliche Geschichte ist und nicht jeder Mensch dasselbe tun würde. Ich habe dann auch während meiner ersten zehn Berufsjahre genügend Erfahrungen gesammelt, die mein Selbstbewusstsein auch wieder hätten schrumpfen lassen können. Ich brauchte die ersten zehn Jahre meines Berufslebens, um offen mit meiner Behinderung umzugehen. Zunächst habe ich sie immer zu verstecken versucht, um bloß nicht als weniger leistungsfähig abgestempelt zu werden. Auch Menschen, die Bescheid wussten, machten Bemerkungen wie ‚Sie müssen ja froh sein, dass Sie nicht in der Behindertenwerkstatt sind, sie haben ja schon eine coole Karriere als Assistentin gemacht, das muss doch jetzt mal reichen‘. Das verstand ich natürlich in dem Moment überhaupt nicht. Heute nutze ich meine Geschichte, damit die Gesellschaft begreift, wie cool das ist einen Diversitätsbonus zu haben – und welche Vorteile das mitbringt für alle. Der All Profit Effekt!“

W.A.F.: „Was raten Sie Arbeitgebern, um beim Thema Inklusion mehr zu punkten?“

CG: „Den gesamten Bereich an erster Stelle strategisch in die Unternehmenskultur einfließen zu lassen und Inklusion praxisorientiert zu leben. Das ist mein Rat. Denn es nützt niemandem, einfach nur Nachhaltigkeitsberichte zu schreiben. Aus meiner Erfahrung geben viele Menschen in ihrer Bewerbung ihre Herausforderungen gar nicht an, mit der Befürchtung sofort in eine Schublade gesteckt zu werden. Hier muss die Kommunikation nach außen verbessert werden, z.B. dank einer klaren Strategie, die dann auch in die Umsetzung gebracht wird. Es muss klar erkennbar sein, dass und inwiefern ein Unternehmen Menschen mit Diversitätsbonus willkommen heißt.“

W.A.F.: „Warum ist es für Unternehmen wichtig, sich hier weiter zu entwickeln?“

CG: „Abgesehen von den Antworten, die auf der Hand liegen, wie zum Beispiel das Beheben des Fachkräftemangels oder auch einfach die Bewahrung ethischer Standards im Wirtschaftsleben, bringen viele Menschen mit einer Herausforderung auch gleichzeitig eine Superkraft mit, die sich das Unternehmen zunutze machen kann. Lassen Sie mich nochmals auf meine persönlichen Erfahrungswerte zurückgreifen: Ich bin der Typ Überperformerin. Durch den Sauerstoffmangel bei meiner Geburt arbeitet mein Großhirn permanent auf Hochtouren, um Aufgaben zu übernehmen, die normalerweise das Kleinhirn ganz automatisch steuert. Was das bedeutet? Mein Großhirn hat gelernt, Bewegungen, Sprache und Koordination auf kreative und alternative Weise zu organisieren, quasi wie Spiderman, dessen Unfall ihm letztlich die Fähigkeit verlieh, Ungewöhnliches zu leisten. Dieser enorme Energieeinsatz führt dazu, dass ich nicht nur Herausforderungen bewältige, sondern immer wieder über mich hinauswachse. Mein Alltag ist dadurch wie ein Leben auf drei Ebenen: Ich handle, denke und reflektiere gleichzeitig, um meine Ziele zu erreichen. Diese ständige Performance – körperlich, geistig und emotional – hat mich dazu gebracht, fünf Sprachen zu sprechen, drei Studienabschlüsse zu erlangen und dabei in jedem Bereich immer ein Stück weiterzugehen als ursprünglich gedacht. Menschen, die scheinbar anders sind, können nicht nur mithalten – sie können Teams auf ungeahnte Weise bereichern.“

W.A.F.: „Welche Schwierigkeiten sehen Sie hier für Arbeitgeber und Arbeitnehmer?“

CG: „Ich würde gar nicht von Schwierigkeiten sprechen. Es ist eher – wie zumeist – eine Frage des Bewusstseins und der Kommunikation. Inklusion und Nachhaltigkeit sind Themen, die auf die Geschäftsführerebene gehören. Das kann nicht von der HR miterledigt oder an eine Nachhaltigkeitsbeauftragte ausgelagert werden. Dafür braucht es einen Posten auf Leitungsebene. Erst dann arbeiten wir wirklich daran, etwas zu ändern. Und auch erst dann gehen wir den Fachkräftemangel sinnvoll an. Außerdem gibt es zahlreiche staatliche Unterstützungsleistungen für Arbeitgeber, die man kennen muss. Zugegeben sind die Anträge dafür manchmal etwas kompliziert. Aber hier sind die Mitarbeiter in den Integrationsämtern und jeweiligen Fachdiensten sehr hilfsbereit und unterstützen, wo sie können. Hier braucht es mehr Aufklärung und Schulungen, denn viele Arbeitgeber fürchten zu Unrecht, dass sie ein solcher Mitarbeiter zu viel ihrer Zeit oder gar Gewinne kosten würde. Das Gegenteil ist der Fall“

W.A.F.: „Welche Tipps geben Sie den Schwerbehindertenvertretern mit auf den Weg?“

CG: „Sich mit Informationen aus erster Hand zu versorgen ist wichtig. Entweder ist die Vertrauensperson selbst schwerbehindert oder sie steht in engem Austausch mit den schwerbehinderten Kolleginnen und Kollegen. Die stetige Weiterbildung ist eine wichtige Aufgabe und auch der Report an die Geschäftsleitung darüber, welche positiven Veränderungen im Laufe der Zeit eintreten. Alle müssen mit einbezogen werden. Es geht darum, Stereotype zu durchbrechen. Nehmen wir das Beispiel der Behindertentoilette. Diese Räume sind um ein Vielfaches größer als herkömmliche Toiletten und das schätzen nicht nur behinderte Menschen, sondern auch Mütter mit Kinderwagen, Personen mit einem gebrochenen Fuß oder auch einfach jemand, der einen Moment der Stille braucht. Solche Räume als Abstellflächen für Reinigungsutensilien oder andere Materialien zu benutzen ist einfach eine riesige Verschwendung von Ressourcen und eine Frechheit. Es sie denn, Sie geben hier mal eine kleine Party, um auf diese stillen Schätze aufmerksam zu machen. Herausforderungen führen zu Kreativität und Innovationen, wie sich zum Beispiel Bluetooth-Kopfhörer aus Hörgeräten und Elektroroller aus Rollstühlen entwickelt haben. Daran müssen wir anknüpfen.“

W.A.F.: „Brauchen wir eine Schwerbehindertenquote, so wie wir es bei der Frauenquote geregelt haben?“

CG: „Nein, auf keinen Fall. Aus meiner Coaching-Ausbildung weiß ich, dass wir Menschen das Freiwilligkeitsmoment unbedingt brauchen. Das bedeutet, wir wollen die Wahl haben. Wenn wir Menschen mit Behinderung einstellen müssen aus einer gesetzlichen Verpflichtung heraus, dann sorgt das für Unverständnis, Unwillen, Widerstand – zumindest inneren – und läuft unseren eigentlichen Inklusionszielen zuwider. Denn eine ungewollte Kollegin oder Kollege bringt eine ganze Lawine an weiteren Problemen ins Rollen wie zum Beispiel Ausgrenzung, Argwohn, Neid, Mobbing, die dann wiederum den Betriebsrat und die Schwerbehindertenvertretung beschäftigen. Keine gute Idee“.

W.A.F.: „Was ist Ihr nächstes Ziel, auf das Sie jetzt zugehen?“

CG: „Mein nächstes Ziel ist es, meine Vision und Mission rund um ‚Positive Relations‘ und dem ‚Diversitätsbonus‘ nicht nur in meiner Arbeit und Lebenswirklichkeit, sondern auch in der breiteren Unternehmenswelt sowie der Gesellschaft als Erfolgsmodelle zu etablieren. Dabei geht es darum, Beziehungen so zu gestalten, dass sie von gegenseitiger Wertschätzung, Vielfalt und Authentizität geprägt sind und so zu Gewinnen führen – sei es innerhalb von Teams, zwischen Führungskräften und Mitarbeitenden oder in der Interaktion mit Kund:innen. Meine Erfahrungen und Einsichten möchte ich reichweitenstark teilen in Form von Impuls-Vorträgen, Keynotes, Interviews, ausgewählt auch in Workshops, um Führungskräfte und Teams zu inspirieren, die Kraft der Diversität und die Schönheit der Individualität zu erkennen und zu nutzen. Gleichzeitig möchte ich weiter daran arbeiten, meine eigene Balance als Performerin zu halten: zwischen dem Streben nach Exzellenz und der Bereitschaft, auch mal innezuhalten und vor allem Kraft zu tanken, zu regenerieren.“

W.A.F.: „Liebe Frau Gersdorf, wir sagen danke für diese vielen inspirierenden Gedanken, mit denen wir nun in unser Arbeitsjahr starten!“

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