BAG Erfurt Az. 9 AZR 448/20 vom 27. Juli 2021
Der Fall:
Der Kläger ist Wassermeister und mit einem Grad der Behinderung von 40 einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Er ist in Vollzeit mit 39 Wochenstunden bei einer Verbandsgemeinde beschäftigt, die für die Trinkwassserversorgung zuständig ist.
Um die Wasserversorgung im Bereich der Verbandsgemeinde sicherzustellen, war es zwingend notwendig, dass das Personal in der Woche und an den Wochenenden zum Bereitschaftsdienst herangezogen wird. Aufgrund der geringen Personaldecke ordnete der Arbeitgeber daher auch für den Kläger Rufbereitschaft an jedem vierten Wochenende an. Dieser beantragte daraufhin von der Rufbereitschaft befreit zu werden und verwies auf eine entsprechende Empfehlung seiner Ärzte.
Die Entscheidung des Gerichts:
Das BAG stellte fest, dass schwerbehinderte und ihnen gleichgestellte Menschen nicht verlangen können, generell von Bereitschaftsdiensten befreit zu werden. Sie haben zwar nach § 207 SGB IX einen Anspruch darauf, keine Mehrarbeit leisten zu müssen. Mehrarbeit ist diejenige Arbeitszeit, die über die gesetzliche regelmäßige Arbeitszeit von werktäglich acht Stunden hinausgeht, vgl. § 3 S. 1 ArbZG. Eine Anordnung von Mehrarbeit ist auf der Grundlage von § 207 SGB IX also nur verboten, wenn ein schwerbehinderter Arbeitnehmer mehr als acht Stunden am Tag arbeiten soll oder die Arbeitszeit auf mehr als sechs Tage in der Woche verteilt wird. Auf die mit dem Arbeitgeber vereinbarte oder tarifvertragliche Arbeitszeit kommt es hingegen nicht an.
Der Kläger, der regulär eine Fünftagewoche hatte, könnte daher grundsätzlich am sechsten Tag zu einem achtstündigen Bereitschaftsdienst herangezogen werden, ohne gegen § 207 SGB IX zu verstoßen.
Das bedeutet die Entscheidung für Sie:
Denken Sie daran, dass losgelöst von § 207 SGB IX (schwer-)behinderte Arbeitnehmer unabhängig von der Frage etwaiger Mehrarbeit einen Anspruch auf behinderungsgerechte Gestaltung der Arbeitsorganisation und der Arbeitszeit haben. Kann also ein (schwer-)behinderter Mensch wegen seiner Schwerbehinderung die Rufbereitschaft nicht mehr ausüben, besteht somit nach § 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 4 SGB IX ein klagbarer Anspruch auf Befreiung.