Ggf vergleichbar/anwendbar
Schulung für Betriebsratsmitglieder über aktuelle Rechtsprechung: Unverzichtbares Grundwissen?
BAG, Beschluss v. 18.01.2012 - 7 ABR 73/10
In vielen Betrieben kommt es immer wieder zu Streit über den Umfang der Seminaraktivitäten des Betriebsrats bzw. der einzelnen Betriebsratsmitglieder. Die Teilnahme an Schulungs- und Bildungsveranstaltungen ist gesetzlich in § 37 BetrVG geregelt. Im Regelfall kommt eine Freistellung für die Teilnahme an Schulungen nur bei konkret dargelegter Erforderlichkeit in Frage. Das Bundesarbeitsgericht hat seine Rechtsprechung in einem aktuellen Beschluss weiter präzisiert (BAG, Beschl. v. 18.01.2012 - 7 ABR 73/10). Welche Leitlinien nach der Rechtsprechung für die Freistellung und die Kostenübernahme gelten, soll nachfolgend erläutert werden.
Der Fall (verkürzt):
Der beteiligte Arbeitgeber betreibt Möbel- und Einrichtungshäuser und beschäftigt etwa 1.500 Arbeitnehmer an verschiedenen Standorten. An dem Standort, an dem sich die Zentralverwaltung des Unternehmens befindet, sind für den Arbeitgeber ca. 300 Arbeitnehmer tätig. Für diesen Betrieb ist ein 9-köpfiger Betriebsrat errichtet. Die hier klagenden beiden Antragsteller sind Mitglieder des gewählten Gremiums. Sie gehörten schon dem in der vergangenen Wahlperiode gebildeten Betriebsrat an.
Dem Betriebsrat stehen Kommentare des Betriebsverfassungsgesetzes, Gesamtdarstellungen des Arbeitsrechts, die Zeitschrift „Arbeitsrecht im Betrieb“ und eine aktuelle Auflage des Werks „Rechtsprechung zum Arbeitsrecht von A bis Z“ zur Verfügung. Der Arbeitgeber überlässt dem Betriebsrat einen Computer mit Internetanschluss, um seine Aufgaben zu erledigen.
Die beiden Antragsteller besuchten in der Vergangenheit die Seminare „Arbeitsrecht I, Arbeitsrecht II, Arbeitsrecht III, BR I, BR II, BR III" sowie „Lohn/Gehalt“ und „Wirtschaftsausschuss“.
Zwischen den Beteiligten besteht seit längerer Zeit Streit darüber, ob der Arbeitgeber verpflichtet ist, mehrere Mitglieder des Betriebsrats für das in Erfurt stattfindende Seminar „Aktuelle Rechtsprechung am Bundesarbeitsgericht“ unter Fortzahlung der Vergütung freizustellen sowie die Seminar-, Unterbringungs- und Verpflegungskosten zu tragen. Es handelt sich um ein Wochenseminar, das vom Veranstalter mehrfach im Jahr in Erfurt angeboten wird. Die Seminarthemen beziehen sich jeweils auf aktuelle Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts. Die Entscheidungen, die in den einzelnen Seminaren besprochen werden, benennt der Veranstalter nach eigenen Angaben erst etwa acht Wochen vor dem jeweiligen Seminarbeginn. Gegenstand des Seminars ist auch ein Besuch der Sitzung eines Senats des Bundesarbeitsgerichts.
Die Kosten für die Seminare belaufen sich je Teilnehmer auf 1.078,10 € einschließlich Mehrwertsteuer. Hinzu kommen Übernachtungs- und Verpflegungskosten von 133,00 € pro Tag.
Der Betriebsrat fasste bereits mehrere Beschlüsse für die Teilnahme einzelner Betriebsratsmitglieder zu verschiedenen dieser Seminare. Der Arbeitgeber lehnte bislang in allen Fällen die Teilnahme mangels Erforderlichkeit ab. Betriebsratsmitglieder besuchten die Schulung deshalb nicht.
Nach mehreren Ablehnungen leiteten der Betriebsrat und die beiden zuletzt abgewiesenen Betriebsratsmitglieder ein Beschlussverfahren ein. Sie vertreten die Auffassung, das Seminar "Aktuelle Rechtsprechung am Bundesarbeitsgericht" vermittle betriebsverfassungsrechtliche Grundkenntnisse. Ein konkreter Schulungsbedarf jedes einzelnen Betriebsratsmitglieds müsse daher nicht dargelegt werden.
Der Arbeitgeber hat hingegen beantragt, die Anträge abzuweisen. Er hat gemeint, die Teilnahme an den Seminaren sei im Zeitpunkt der Entsendung schon deswegen nicht erforderlich, weil die konkret besprochenen Entscheidungen erst kurz vor Seminarbeginn bekannt gegeben würden. Die Betriebsratsmitglieder könnten sich im Übrigen durch die zur Verfügung gestellte Fachpresse über die aktuelle Rechtsprechung informieren.
Das Arbeitsgericht hat die gestellten Anträge abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat sich im Beschwerdeverfahren der Entscheidung des Arbeitsgerichts angeschlossen.
Die Entscheidung:
Im Rechtsbeschwerdeverfahren hat das Bundesarbeitsgericht die Anträge ebenfalls vollständig abgewiesen.
I. Schulungsanspruch
Nach § 37 Abs. 6 S. 1 BetrVG ist die Vermittlung von Kenntnissen erforderlich, wenn sie unter Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse im Betrieb und Betriebsrat notwendig sind, damit der Betriebsrat seine gegenwärtigen oder in naher Zukunft anstehenden Aufgaben sach- und fachgerecht erfüllen kann. Dazu muss ein aktueller oder absehbarer betrieblicher oder betriebsratsbezogener Anlass dargelegt werden, aus dem sich der Schulungsbedarf ergibt. Lediglich bei erstmals gewählten Betriebsratsmitgliedern braucht die Schulungsbedürftigkeit nicht näher dargelegt zu werden, wenn Grundkenntnisse im Betriebsverfassungsrecht, im allgemeinen Arbeitsrecht oder im Bereich der Arbeitssicherheit und Unfallverhütung vermittelt werden.
Hinweis für die Praxis:
Das Bundesarbeitsgericht unterscheidet also zwischen der Vermittlung sog. Grundkenntnisse und anderer Schulungsveranstaltungen. Durch die Vermittlung von Grundwissen soll das Betriebsratsmitglied erst in die Lage versetzt werden, seine sich aus der Amtsstellung ergebenden Rechte und Pflichten ordnungsgemäß wahrzunehmen. Für andere Schulungsveranstaltungen muss ein aktueller, betriebsbezogener Anlass für die Annahme bestehen, dass die in der Schulungsveranstaltung zu erwerbenden besonderen Kenntnisse derzeit oder in naher Zukunft von dem zu schulenden Betriebsratsmitglied benötigt werden, damit der Betriebsrat seine Beteiligungsrechte sach- und fachgerecht ausüben kann.
II. Prüfung der Erforderlichkeit
Ausgehend von diesen Grundsätzen kann es erforderlich im Sinne von § 37 Abs. 6 S. 1 BetrVG sein, dass einzelne Betriebsratsmitglieder durch den Besuch entsprechender Schulungsveranstaltungen Kenntnis von der aktuellen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts erlangen. Ob das der Fall ist, hängt jedoch von zahlreichen Umständen ab. Dazu gehören insbesondere die konkreten Seminarinhalte, eine mögliche Aufgabenverteilung innerhalb des Betriebsrats und eine thematische Spezialisierung einzelner Betriebsratsmitglieder, die Zahl der entsandten Betriebsratsmitglieder und deren Verhältnis zur Gesamtgröße des Betriebsrats, die letzte Aktualisierung des bereits vorhandenen Wissens sowie betriebliche Entwicklungen, die es besonders dringlich erscheinen lassen, die Kenntnisse der jüngeren Rechtsprechung in bestimmten Fragen zu aktualisieren.
Von diesen Umständen muss der Betriebsrat Kenntnis haben um beurteilen zu können, ob die Schulungsveranstaltung erforderlich im Sinne von § 37 Abs. 6 S. 1 BetrVG ist, um seinen Beurteilungsspielraum sachgerecht auszuüben.
Hinweis für die Praxis:
Bei der Prüfung der Erforderlichkeit hat der Betriebsrat die betriebliche Situation und damit die mit dem Besuch der Schulungsveranstaltung verbundenen finanziellen Belastungen des Arbeitgebers ebenfalls zu berücksichtigen. Die Teilnahme an einer Schulungsveranstaltung ist nicht erforderlich, wenn sich der Betriebsrat vergleichbare Kenntnisse zumutbar und kostengünstiger auf andere Weise verschaffen kann.
Fazit:
Die Vermittlung von Grundkenntnissen bei neu gewählten Betriebsratsmitgliedern bedarf keiner näheren Darlegung zur Erforderlichkeit. Bei allen anderen Seminarthemen ist dies jedoch anders. Entscheidend ist die konkrete Situation im Betrieb und Betriebsrat. Je nach Einzelfall können dazu auch Seminare, die sich mit dem Inhalt aktueller Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts befassen, gezählt werden. Der Betriebsrat muss dies aber im Einzelnen darlegen, bezogen auf die konkrete betriebliche Situation. Bei der Beurteilung der Erforderlichkeit der Teilnahme an der Schulungsveranstaltung sind neben dem konkreten Themenplan z.B. die Größe des Betriebsrats, die Aufgaben des Betriebsratsmitglieds im Gremium, die Zahl der entsandten Betriebsratsmitglieder und in jüngerer Vergangenheit bereits besuchte Seminare zu berücksichtigen.
Seminare verursachen Kosten. Der Betriebsrat ist daher gehalten, die Erforderlichkeit sorgfältig zu prüfen. Liegen die Voraussetzungen vor, besteht der Anspruch und sollte dann auch gewährt werden. Für die Lösung von Konflikten gibt das BAG in seiner aktuellen Entscheidung den Betriebspartnern zahlreiche Kriterien an die Hand. Damit lassen sich Gerichtsverfahren vermeiden.
Verfasser: Dr. Nicolai Besgen <http://www.meyer-koering.de/extra/jump/29/120/> (Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Büro Bonn)