Betriebliche Übung
Ansgar F. Dittmar
Die Betriebliche Übung ist eine Ergänzung des Arbeitsvertrags durch ein (konkludentes) Verhalten des Arbeitgebers, was den Rückschluss auf den Willen zur Vertragsänderung beim Arbeitnehmer erweckt. Wie eine betriebliche Übung durch den Arbeitgeber entsteht und was in der Praxis wichtig ist, lesen Sie in diesem Wissensartikel.
Was ist eine betriebliche Übung?
Durch die betriebliche Übung besteht für Arbeitnehmer die Möglichkeit, allein aufgrund des Verhaltens des Arbeitgebers in verbindlicher Art und Weise Rechte für sich herzuleiten. Eine Regelung in Gesetz, Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder im individuellen Arbeitsvertrag ist in solch einem Fall nicht festgeschrieben. Trotzdem erhält der Arbeitnehmer auf diesem Weg einen Anspruch auf eine bestimmte Leistung, ohne dass der Arbeitgeber ihm diese zukünftig einseitig verweigern kann.
Der wohl bekannteste Fall der betrieblichen Übung ist die Gewährung eines Weihnachtsgeldes bzw. eines 13. Gehalts. Jedoch kann sich aus diesem rechtlichen Instrument auch eine Vielzahl anderer Ansprüche ergeben.
Rechtsnatur
Nicht unumstritten ist, wie die betriebliche Übung rechtlich einzuordnen ist. Für die Praxis maßgeblich ist die Ansicht des Bundesarbeitsgerichts (BAG), das die sogenannte Vertragstheorie vertritt. Hiernach macht der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer durch sein Verhalten ein konkludentes, also ein nicht ausdrücklich erklärtes Angebot auf Anpassung seines Arbeitsvertrags. Dieses kann der Arbeitnehmer auch stillschweigend nach § 151 Satz 1 BGB annehmen.
Entstehung einer betrieblichen Übung
Als betriebliche Übung wird im Arbeitsrecht die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers bezeichnet, aus denen ein Arbeitnehmer schließen kann, dass ihm eine bestimmte Leistung oder Vergünstigung auf Dauer eingeräumt wird.
Eine umfassende, für alle Fälle geltende Regel dazu, wie oft und über welchen Zeitraum der Arbeitgeber sein Verhalten wiederholen muss, bis eine betriebliche Übung entsteht, existiert nicht. Vielmehr sind verschiedene Faktoren in diese Überlegung einzubeziehen. Es kommt hierbei etwa auf Art und Inhalt der erbrachten Leistung an, als wie wichtig diese sich für den Arbeitnehmer darstellt und wie viele der Mitarbeiter eines Betriebs bisher von der Leistung profitiert haben.
Grundsatz des Bundesarbeitsgerichts
Zumindest in Hinblick auf den häufigen Anwendungsfall jährlicher Sonderzahlungen wie des Weihnachtsgeldes hat das BAG in ständiger Rechtsprechung einen Grundsatz festgelegt: Bei mindestens dreimaliger, vorbehaltsloser und gleichbleibender Gewährung, wird vom Entstehen einer betrieblichen Übung ausgegangen. Eine allgemeingültige Regel folgt hieraus aber nicht.
Beispiel 1
Der Arbeitgeber gewährt jedes Jahr 500 EUR Weihnachtsgeld. Nach dem dritten Jahr ergibt sich daraus eine Erwartungshaltung, so dass der Arbeitnehmer davon ausgeht, dass er auch in Zukunft diesen Betrag erhält.
Beispiel 2
Der Arbeitgeber zahlt im 1. Jahr 500 EUR Weihnachtsgeld, im 2. Jahr 250 EUR und im 3. Jahr 200 EUR. Daraus ergibt sich keine „gleichbleibende“ Gewährung, so dass der Arbeitnehmer nicht zwingend davon ausgehen konnte, auch in Zukunft einen Betrag zu erhalten.
Die Leistung darf zudem nicht auf einer rechtlichen Pflicht des Arbeitgebers beruhen. Nimmt der Arbeitgeber etwa irrtümlich an, dass er aufgrund eines Tarifvertrags zur Leistung verpflichtet ist, kann keine betriebliche Übung entstehen.
In diesem Ratgeber finden Sie grundlegendes Wissen für Ihren Arbeitsalltag wie Rechte, Pflichten und Mitbestimmungsrechte als Betriebsrat sowie wertvolle Praxis-Tipps für die Betriebsratsarbeit.
Anwendungsbereich einer betrieblichen Übung
Ansprüche aus einer betrieblichen Übung können nur entstehen, wenn für das geltend gemachte Recht keine andere ausdrückliche Anspruchsgrundlage besteht. Gegenstand kann alles sein, was auch Inhalt von Arbeitsverträgen sein kann. Inhaltlich muss dies nicht immer nur eine rein finanzielle Zuwendung durch den Arbeitgeber betreffen. Die betriebliche Übung kann sich auch auf Sonstiges, z.B. Gepflogenheiten im betrieblichen Arbeitsalltag beziehen.
Denkbar ist dies beispielsweise bei folgenden Leistungen:
- Weihnachtsgeld und Urlaubsgeld
- Jubiläumsgratifikationen
- Urlaubsregelungen
- Regelung von Krankmeldungen
- Pausenregelungen
- Fahrtkostenzuschüsse
In persönlicher Hinsicht finden betriebliche Übungen grundsätzlich auf alle Arbeitnehmer eines Betriebs Anwendung. Einzelne Arbeitnehmer, die im Rahmen einer betrieblichen Übung zunächst nicht vom Arbeitgeber bedacht werden, können daher denselben Anspruch geltend machen wie die restliche Belegschaft. Dies gilt auch für neu eintretende Mitarbeiter. Diese profitieren von allen bereits existierenden betrieblichen Übungen. Arbeitsvertraglich kann diese Geltung ausgeschlossen werden, jedoch nicht völlig sachgrundlos.
Ausschluss des Rechtsanspruchs
Der Arbeitgeber kann Leistungen jedoch unter einem „Freiwilligkeitsvorbehalt“ gewähren. Hierbei erklärt er, dass der Arbeitnehmer die Leistung freiwillig und ohne Bindung für die Zukunft erhält. Der Arbeitgeber stellt so klar, dass ihm der Verpflichtungswille fehlt und verhindert damit das Entstehen einer betrieblichen Übung. Erfolgt eine Leistung unter solch einem Vorbehalt, kann der Arbeitgeber von Fall zu Fall neu entscheiden, ob, wann und wie er die betriebliche Leistung erneut gewähren will.
Der Freiwilligkeitsvorbehalt muss aber auch wirksam sein. Häufig unterlaufen Arbeitgebern bei dessen Erklärung Fehler. Insbesondere unterliegen mündliche oder durch eine betriebliche Übung begründete Vertragsbedingungen ebenso wie Formulararbeitsverträge den Regelungen der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (§§ 305 ff. BGB).
Ein Vorbehalt ist etwa dann unwirksam, wenn er den Arbeitnehmer entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligt. Eine unangemessene Benachteiligung ergibt sich oft daraus, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist und damit nicht dem Transparenzgebot nach § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB gerecht wird. Die Voraussetzungen und der Umfang des Vorbehalts muss so konkret formuliert werden, dass der Arbeitnehmer sachgerecht erkennen und beurteilen kann, unter welchen Umständen dieser eingreift.
Eine Kombination aus Freiwilligkeits- und Widerrufsvorbehalt hat das BAG beispielsweise als regelmäßig intransparent und damit unwirksam bezeichnet (BAG, Urt. v. 14.09.2011 – 10 AZR 526/10). Auch darf der Freiwilligkeitsvorbehalt nicht zu allgemein gehalten sein. Werden hiervon alle zukünftig entstehenden Leistungen erfasst, ist dies zu pauschal und ebenfalls unwirksam (BAG, a.a.O.).
Aufhebung der betrieblichen Übung
Gegenläufige betriebliche Übung
In der Vergangenheit hat das BAG angenommen, dass der Arbeitgeber mittels einer „gegenläufigen“ betrieblichen Übung seine zuvor zugesprochene Leistung wieder einschränken oder aufheben kann, indem er diese etwa nachträglich mit einem Freiwilligkeitsvorbehalt versieht. Dafür war lediglich erforderlich, dass der Arbeitnehmer dieser Veränderung über einen gewissen Zeitraum nicht widerspricht, wobei sich das BAG daran orientierte, wie lange es zur Entstehung der betrieblichen Übung brauchte. Der Anspruch auf Weihnachtsgeld konnte hiernach nach drei widerspruchslosen Jahren wieder verloren gehen.
Von dieser Rechtsprechung kehrte sich das BAG ab (BAG, Urt. v. 18.03.2009 – 10 AZR 281/08). Die gegenläufige betriebliche Übung hat nunmehr stark an Relevanz verloren. Auch diese unterliegt den Vorschriften über die Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Gemäß § 308 Nr. 5 BGB kann ein Schweigen des Arbeitnehmers nicht einfach als Annahme einer vom Arbeitgeber eingeführten, gegenläufigen betrieblichen Übung gewertet werden. Dies wäre i.S.d. gesetzlichen Regelung nur dann möglich, wenn der Arbeitnehmer über die Bedeutung seines Schweigens und das Vorgehen des Arbeitgebers klar und verständlich informiert und ihm die Gelegenheit zu einer ausdrücklichen Erklärung gegeben wird.
Im Ergebnis führt dies dazu, dass ein Anwendungsbereich für die gegenläufige betriebliche Übung kaum verbleibt. Geht der Arbeitgeber gesetzeskonform vor, kommt dies vielmehr einem ausdrücklichen als einem konkludenten Angebot auf Anpassung des Arbeitsvertrags gleich.
Kündigung durch den Arbeitgeber?
Ist die betriebliche Übung Bestandteil des Arbeitsvertrages geworden, so kann der Arbeitgeber sie nicht mehr gesondert aufkündigen. Nur durch eine einvernehmliche Vereinbarung mit dem Arbeitnehmer oder durch eine Änderungskündigung kann sie für die Zukunft beseitigt werden. Hierbei ist er aber auf die Mitwirkung des Arbeitnehmers angewiesen.
Verhältnis zwischen betrieblicher Übung und Betriebsvereinbarungen
Der Betriebsrat hat grundsätzlich weder bei der Entstehung noch bei der Änderung oder Aufhebung betrieblicher Übungen Mitbestimmungsrechte. Es handelt sich hier um Individualansprüche der Arbeitnehmer, der Betriebsrat bleibt damit außen vor. Der Betriebsrat kann jedoch zumindest darüber wachen, dass der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz angewandt wird und betriebliche Übungen nicht entgegen der Ansprüche gewährt werden.
In Ausnahmefällen ist die Beendigung einer betrieblichen Übung durch eine Betriebsvereinbarung möglich. Voraussetzung ist, dass bei kollektiver Betrachtung die aus der Betriebsvereinbarung entstehenden Ansprüche für die Arbeitnehmer insgesamt nicht ungünstiger sind. Die Betriebsvereinbarung muss die betriebliche Übung also zumindest gleichwertig ersetzen.
Allerdings kann ein typischer Anwendungsbereich der betrieblichen Übung, das Weihnachtsgeld und andere Sonderzahlungen, grundsätzlich sowieso nicht durch Betriebsvereinbarung geregelt werden. Unabhängig von der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers ist eine solche Vereinbarung über Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat gemäß der Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG ausgeschlossen. Dieser Tarifvorrang entfällt nur bei Vorliegen einer Öffnungsklausel im Tarifvertrag.
Betriebliche Übung in Bezug auf die Arbeitszeit
In Hinblick auf die Arbeitszeit gilt als konkreteste Regelung zunächst der Arbeitsvertrag. Ist hier keine Regelung getroffen, dann kann der Vertrag im Wege einer betrieblichen Übung ergänzt sein. Hierzu müssen Arbeitszeiten über einen längeren Zeitraum gleich vom Arbeitgeber vorgegeben werden. Ob eine betriebliche Übung tatsächlich entstanden ist, kann nur für den Einzelfall bestimmt werden, denn die Entstehung steht stets in einem Spannungsverhältnis mit dem Weisungsrecht des Arbeitgebers aus § 106 Satz 1 GewO, der hiernach Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen bestimmen kann. Der Arbeitgeber hat teils ein (berechtigtes) Interesse daran, die Arbeitszeiten flexibel anpassen zu können, auch wenn er dieses Recht über einen langen Zeitraum nicht ausübt.
Arbeitsvertraglichen Regelungen und somit auch einer betrieblichen Übung zur Arbeitszeit gehen jedoch tarifvertragliche Regelungen und auch bestehende Betriebsvereinbarungen vor. Den Rahmen bilden gesetzliche Arbeitszeitregelungen zum Schutz des Arbeitnehmers.
Ob der Arbeitgeber die Arbeitszeit seiner Beschäftigten nachträglich ändern kann, ist demnach vor dem Hintergrund verschiedener, Geltung beanspruchender Regelungen zu beurteilen. In Betrieben mit einem Betriebsrat hat dieser zudem ein Mitbestimmungsrecht über die Lage und Verteilung der Arbeitszeit nach § 87 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 BetrVG. Arbeitszeiten können ohne seine Zustimmung nicht verlegt werden.
Praxis-Tipp
Der Betriebsrat sollte angeblich freiwillige Leistungen auf ihre tatsächliche Freiwilligkeit prüfen. Bei Leistungen mit Entgeltcharakter käme ggf. ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG in Betracht.
Bei freiwilligen Leistungen des Arbeitgebers kommt ein Mitbestimmungsrecht zwar nicht hinsichtlich der absoluten Höhe der erbrachten Leistungen, aber zumindest bzgl. der gerechten Ausgestaltung der Leistungen im vom Arbeitgeber vorgegebenen finanziellen Rahmen, also der relativen Höhe der Leistungen im Verhältnis zwischen den Beschäftigten untereinander, in Betracht.