Das BAG hat dem EuGH die Frage gestellt, ob der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach §§ 194 ff. BGB der Verjährung unterliegt.
Was war passiert?
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat am 29.09.2020 (Az: 9 AZR 266/20) dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Frage gestellt, ob der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach §§ 194 ff. BGB der Verjährung unterliegt.
Der EuGH hat dazu am 22.09.2022 (C-120/21) entschieden, dass der Anspruch von Beschäftigten auf bezahlten Urlaub zwar grundsätzlich einer dreijährigen Verjährung unterliegen könne. Allerdings müssen Arbeitgeber dafür Sorge tragen, dass die Arbeitnehmer den Urlaub wahrnehmen können. Das bedeutet, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer in die Kenntnis über Urlaubsansprüche setzen und auffordern muss, den Urlaub zu nehmen. Macht er das nicht, dann kann sich der Arbeitgeber nicht auf eine Verjährung berufen. Das bedeutet, dass auch Urlaubsansprüche, die 10 Jahre oder länger zurückliegen noch geltend gemacht werden können.
Warum musste jetzt das BAG noch entscheiden?
Das Bundesarbeitsgericht hatte daher jetzt noch in der Sache selbst zu entscheiden, da die Vorabentscheidung vor dem EuGH nur die Rechtslage an sich, jedoch nicht den konkreten Fall, welchen das BAG zu entscheiden hat, geklärt hat. Fraglich war vor allem, wer die Darlegungs- und Beweislast nach Ansicht des BAG trägt. Die Antwort des BAG: Der Arbeitgeber
Um was ging es in dem Streit?
Die Arbeitnehmerin war von 1996 bis 2017 bei dem Arbeitgeber beschäftigt. Sie hatte 2012 eine Bescheinigung von 76 Tagen Resturlaub erhalten und diesen sowie weiteren Resturlaub von 25 Tagen aus den Jahren 2013 bis 2017 im Jahr 2018 eingeklagt. Das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien endete 2017.
Der Arbeitgeber hatte unstreitig nie die Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten erfüllt, sprich die Arbeitnehmerin konkret aufgefordert hat, ihren Urlaub rechtzeitig im Urlaubsjahr zu nehmen, und darauf hingewiesen hat, dass dieser andernfalls verfallen kann. Der Arbeitgeber hatte im Rechtsstreit mitgeteilt, dass die Urlaubsansprüche von 2014 und früher aber verjährt seien.
In erster Instanz hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage stattgegeben und den Arbeitgeber unter anderem zur Zahlung von den 76 Urlaubstagen (immerhin mehr als 17.000 Euro) verurteilt.
Das BAG hat in seiner Entscheidung vom 20.12.2022 – 9 AZR 266/20 jetzt klargestellt, dass die dreijährige Verjährungsfrist erst am Ende des Kalenderjahres beginnt, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seinen individuellen Urlaubs- bzw. Resturlaubsanspruch und die Verfallsfristen belehrt und der Arbeitnehmer den Urlaub nicht genommen hat.
Grund ist, dass die Rechtssicherung, welche durch Verfalls- und Verjährungsfristen eintreten soll, nicht zu Lasten des Erholungsurlaubsanspruchs des Arbeitnehmers gehen darf. Der Arbeitgeber, welcher seine Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten nicht erfüllt, kann sich nicht später auf die Verjährung und die Rechtssicherheit berufen.
Quid pro Quo: Wer sich nicht korrekt verhält, kann sich nicht auf ihm zustehende Vorteile berufen, welche zu einem Nachteil beim schwächeren Vertragspartner führen.
Die Entscheidung, dass der Arbeitgeber eine auch lang zurückliegende Urlaubsabgeltung an die Arbeitnehmerin bezahlen muss, weil er sie nicht aufgeklärt und hingewiesen hatte, dass sie noch Urlaubsansprüche hat und diese zu nehmen sind, ist damit richtig.
Und was heißt das jetzt?
Die Entscheidung verdeutlicht, dass Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers bei gesetzlichen bezahlten Urlaubsansprüchen, welche der EuGH und das BAG bereits 2019 (BAG vom 19.02.2019 – 9 AZR 423/16; EuGH 06.11.2018 C 684/16) übereinstimmenden festgestellt hatten, nicht nur für den Verfall (§ 7 Abs.3 BurlG), sondern auch für die Verjährung (§§194ff. BGB) von Urlaubsansprüchen entscheidend sind.
Nur als Randbemerkung: Der Urlaubsanspruch der Arbeitnehmerin hatte sich in einen Abgeltungsanspruch nach § 7 Abs.4 BurlG umgewandelt. Dieser Anspruch unterliegt im Übrigen der dreijährigen Verjährungsfrist nach §§194ff. BGB, da hier keine Obliegenheitspflichten des Arbeitgebers mehr bestehen. Die Arbeitnehmerin hatte den Anspruch aber rechtzeitig geltend gemacht.
Für die Praxis offen bleibt die Frage, ob Ausschlussfristen in Arbeitsverträgen oder Aufhebungsverträgen ausreichend sind, um als finanzielle Abgeltungsklausel Ansprüche der Arbeitnehmer trotz Obliegenheitsverletzungen der Arbeitgeber auszuhebeln. Die Praxis wird jedenfalls zeigen, wie viele Arbeitnehmer nun alte Urlaubsabgeltungs- oder Resturlaubsansprüche gegenüber ihren ehemaligen oder existenten Arbeitgebern geltend machen.
Für den Betriebsrat selbst ergeben sich bei den Beteiligungsrechten zunächst einmal keine Neuerungen. Allerdings wird der Betriebsrat in den Sprechstunden nach § 39 BetrVG mit diesen oder ähnlichen Fragen konfrontiert werden und sollte daher die Arbeitnehmer auf die nunmehr neue Rechtsprechung hinweisen können.