LAG Thüringen Az. 5 Sa 35/23 vom 24. Okt. 2024
Der Fall
Ein Ingenieur mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 bewarb sich im Juni 2022 auf eine Stelle als Bauingenieur bei einer öffentlichen Arbeitgeberin. In seiner Bewerbung wies er auf seine Schwerbehinderung hin. Obwohl alle Bewerber geeignet waren, erhielt er – im Gegensatz zu drei anderen – keine Einladung zum Vorstellungsgespräch. Er vermutete eine Benachteiligung wegen seiner Behinderung und klagte auf Entschädigung nach dem AGG. Der Fall war nicht sein erster Kontakt mit der Arbeitgeberin. Bereits 2021 hatte sich der Kläger auf eine nahezu identische Stelle beworben, jedoch ohne Hinweis auf seine Schwerbehinderung. Damals wurde er eingeladen, aber abgelehnt. Bei der späteren Bewerbung verwies er auf die damalige Absage. Aus seiner Sicht konnte das nicht als Ablehnungsgrund für das neue Verfahren gelten.
Die Entscheidung des Gerichts
Das LAG Thüringen sah zunächst eine unmittelbare Benachteiligung. Wer nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wird, verliert die Chance auf Einstellung. Bei öffentlichen Arbeitgebern besteht zudem nach § 165 SGB IX eine gesetzliche Einladungspflicht. Da der Kläger objektiv geeignet war, lag ein Verstoß gegen diese Pflicht vor – und damit ein Indiz für eine Diskriminierung wegen der Schwerbehinderung. Der Kläger verwies auf weitere Pflichtverstöße. Die Arbeitgeberin hatte weder den Betriebsrat informiert noch eine Erörterung der Entscheidung durchgeführt – obwohl sie die Beschäftigungsquote für Schwerbehinderte nicht erfüllte. Auch das sprach aus Sicht des Gerichts zunächst für eine Benachteiligung. Trotzdem wurde die Klage abgewiesen. Die Beklagte konnte die Diskriminierungsvermutung entkräften. Sie hatte sich 2021 nach einem Vorstellungsgespräch gegen den Kläger entschieden. Diese Erkenntnisse durfte sie nach Ansicht des Gerichts auch 2022 noch berücksichtigen, weil sich die Anforderungen an die Stelle kaum geändert hatten.
Entscheidend war: Die Ablehnung 2021 basierte nicht auf der Behinderung, da diese damals nicht bekannt war. Die Wiederholung der Ablehnung beruhte auf fachlichen Einschätzungen – nicht auf einer unzulässigen Ungleichbehandlung. Deshalb war die Einladung im zweiten Verfahren ausnahmsweise entbehrlich. Das Gericht betonte: Es gibt keine starre zeitliche Grenze, ab wann frühere Erkenntnisse nicht mehr verwendet werden dürfen. Entscheidend sei die Gesamtschau im Einzelfall. Die Entscheidung ist rechtskräftig. Das BAG hat die Nichtzulassungsbeschwerde verworfen (8 AZN 324/24).
Das bedeutet die Entscheidung für Sie
Arbeitgeber müssen schwerbehinderte Bewerber grundsätzlich einladen – auch bei Vorliegen vieler Bewerbungen. Wird diese Pflicht verletzt, spricht der erste Anschein für eine Diskriminierung. Arbeitgeber sind dann in der Pflicht, die Vermutung zu widerlegen. Pflichtverletzungen wie fehlende BR-Beteiligung können diesen Verdacht zusätzlich verstärken. Allerdings zeigt das Urteil: Eine frühere, nicht diskriminierende Absage kann im Einzelfall genügen, um die Vermutung zu entkräften. Voraussetzung ist, dass die Entscheidung damals sachlich begründet war und heute noch Gültigkeit hat. Dokumentation und Nachvollziehbarkeit sind hier entscheidend. Sie als Schwerbehindertenvertretung sollten auf eine lückenlose Beteiligung achten. Ohne Ihre Einbindung ist die Rechtsposition des Arbeitgebers erheblich geschwächt. Eine unterbliebene Erörterung bei Nichterfüllung der Beschäftigungsquote ist besonders kritisch zu sehen. Die Entscheidung mahnt zur Sorgfalt. Diskriminierungsfragen im Bewerbungsverfahren erfordern eine präzise Abwägung. Auch scheinbar formale Fehler können rechtlich schwer wiegen – ebenso wie gut dokumentierte Einstellungsentscheidungen im Sinne der Entlastung.