Mitbestimmung des Betriebsrats bei Führung von Krankengesprächen

BAG 1 ABR 22/94 vom 8. Nov. 1994

Leitsatz

1. Die Führung formalisierter Krankengespräche zur Aufklärung eines überdurchschnittlichen Krankenstandes mit einer nach abstrakten Kriterien ermittelten Mehrzahl von Arbeitnehmern ist gemäß § 87 Abs. 1 Satz 1 BetrVG mitbestimmungspflichtig. Es geht dabei um das Verhalten der Arbeitnehmer in bezug auf die betriebliche Ordnung und nicht um das Verhalten bei der Arbeitsleistung selbst.

Gründe

A. Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht zusteht, wenn der Arbeitgeber mit den Arbeitnehmern sog. Krankengespräche führt. Die Arbeitgeberin betreibt ein Holzverarbeitungsunternehmen mit den Bereichen Furnierwerk, Spanplattenwerk, Sägewerk und Parkettwerk. Sie beschäftigt ca. 270 Arbeitnehmer. Antragsteller ist der in ihrem Betrieb gewählte Betriebsrat.

Im Februar 1993 führte der Personalleiter der Arbeitgeberin mit 27 Mitarbeitern - überwiegend im Furnierwerk beschäftigt - sog. Krankengespräche. Anlaß hierfür war der Krankenstand im Furnierwerk, der den in anderen Betriebsabteilungen deutlich überstieg. In den Gesprächen befragte der Personalleiter die Arbeitnehmer zu den krankheitsbedingten Ausfallzeiten der letzten drei Jahre. Den Arbeitnehmern wurden vorbereitete schriftliche Erklärungen vorgelegt, in denen sie den behandelnden Arzt von der Schweigepflicht entbinden sollten. Ca. 90 % der befragten Arbeitnehmer unterzeichneten die Erklärung.

Der Betriebsrat wurde nicht beteiligt. Er hat die Auffassung vertreten, die von der Arbeitgeberin durchgeführte Aktion sei mitbestimmungspflichtig. Sie habe Fragen der betrieblichen Ordnung betroffen. Zweck solcher Gespräche sei unter anderem die Beeinflussung des Krankheitsverhaltens der Arbeitnehmer. Diese sollten bewegt werden, bei leichten Erkrankungen nicht den Arzt aufzusuchen, sondern zur Arbeit zu gehen. Damit sei das Ordnungsverhalten der Arbeitnehmer angesprochen. Deren Zusammenleben und -wirken im Betrieb werde durch krankheitsbedingte Abwesenheit beeinflußt. Die Arbeitgeberin habe in den Gesprächen darauf hingewiesen, daß Kündigungen erforderlich seien. Nicht anwesende Mitarbeiter seien mit einem formalisierten Anhörungsschreiben zur Beantwortung der Fragen und zur Entbindung ihres Arztes von der Schweigepflicht aufgefordert worden. Die Arbeitgeberin sei verpflichtet, die unter Verletzung des Mitbestimmungsrechts beschafften Unterlagen zu vernichten bzw. an die betroffenen Arbeitnehmer herauszugeben.

Der Betriebsrat hat beantragt,

1. der Arbeitgeberin zu untersagen, die anläßlich einer in der Zeit vom 10. bis 16. Februar 1993 stattgefundenen Befragung über den Gesundheitszustand von Arbeitnehmern gewonnenen Erkenntnisse individualrechtlich zu verwenden und (sie zu verurteilen,) die erlangten schriftlichen Unterlagen (insbesondere Entbindungserklärung von der Schweigepflicht, Arztaussagen, Krankenberichte der Krankenkasse) den betroffenen Arbeitnehmern herauszugeben;

2. festzustellen, daß die Arbeitgeberin verpflichtet ist, vor der Einholung von Krankenberichten mittels formalisierter schriftlicher oder mündlicher Aufforderung das Mitbestimmungsrecht des Antragstellers zu beachten.

Die Arbeitgeberin hat beantragt, die Anträge zurückzuweisen.

Sie hat ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG verneint. Die geführten Gespräche hätten allein dazu gedient, Aufschluß über die Ursachen der erhöhten Fehlzeiten zu erlangen. Dies sei erforderlich gewesen, um eventuelle arbeitsplatzspezifische Einflüsse zu erkennen und abstellen zu können. Die Mitarbeiter seien nicht auf mögliche Entlassungen hingewiesen worden. Es sei kein Zwang ausgeübt worden, die behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht zu entbinden. Eine schriftliche Aufforderung an abwesende Arbeitnehmer sei nicht ergangen. Das Ordnungsverhalten der Arbeitnehmer sei in keinem Fall berührt. Selbst wenn man der Aktion eine generalpräventive Zielsetzung beimesse, sei diese doch auf das Arbeits- und Leistungsverhalten der Arbeitnehmer ausgerichtet gewesen. Wenn die Arbeitnehmer vom "Krankfeiern" abgehalten werden sollten, diene das den berechtigten Interessen des Arbeitgebers an der ordnungsgemäßen Erbringung der Arbeitsleistung. Ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVGscheide gleichfalls aus. Mit der Frage nach der Krankheitsgeschichte sei keine Regelung im Sinne dieser Vorschrift getroffen worden.

Das Arbeitsgericht hat die Anträge des Betriebsrats zurückgewiesen; das Landesarbeitsgericht hat dem Feststellungsantrag stattgegeben, im übrigen aber die Beschwerde des Betriebsrats zurückgewiesen. Mit der für beide Beteiligten zugelassenen, aber nur von der Arbeitgeberin eingelegten Rechtsbeschwerde will diese die volle Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung erreichen.

B. Die Rechtsbeschwerde der Arbeitgeberin ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats zutreffend festgestellt.

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II. Das Landesarbeitsgericht hat den Feststellungsantrag im Ergebnis zu Recht als begründet angesehen. Dem Betriebsrat steht bei der Führung von Krankengesprächen in der hier zu beurteilenden Form ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG zu.

1. Nach dieser Vorschrift hat der Betriebsrat mitzubestimmen bei Fragen der Ordnung des Betriebes und des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb. Gegenstand des Mitbestimmungsrechts ist das betriebliche Zusammenleben und Zusammenwirken der Arbeitnehmer. Dieses fordert ein aufeinander abgestimmtes Verhalten. Dazu dienen verbindliche Verhaltensregeln sowie unterschiedliche Maßnahmen, die geeignet sind, das Verhalten der Arbeitnehmer zu beeinflussen und zu koordinieren. Zweck des Mitbestimmungsrechts ist es, den Arbeitnehmern eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gestaltung des betrieblichen Zusammenlebens zu gewähren.

Von dem mitbestimmungspflichtigen Ordnungsverhalten ist das reine Arbeitsverhalten zu unterscheiden. Dieses betreffen alle Regeln und Weisungen, die bei der unmittelbaren Erbringung der Arbeitsleistung selbst zu beachten sind. Das Arbeitsverhalten wird berührt, wenn der Arbeitgeber kraft seiner Organisations- und Leitungsmacht näher bestimmt, welche Arbeiten in welcher Weise auszuführen sind. Nicht mitbestimmungspflichtig sind danach Anordnungen, mit denen die Arbeitspflicht unmittelbar konkretisiert wird . An dieser Rechtsprechung, die auch das Landesarbeitsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, hält der Senat fest.

2. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die von der Arbeitgeberin geführten Krankengespräche berührten das so verstandene Ordnungsverhalten, weil sie (auch) dazu dienten, das Krankfeiern und damit einen Störfaktor in der betrieblichen Zusammenarbeit zurückzudrängen; es gehe nicht nur um die Verbesserung der Arbeitsleistung der einzelnen Arbeitnehmer, sondern zugleich um die Aufrechterhaltung des Betriebsfriedens.

a) Es kann offenbleiben, ob sich eine Maßnahme, die das sog. Krankheitsverhalten der Arbeitnehmer beeinflussen soll, schon allein wegen dieses Ziels generell dem Ordnungsverhalten oder dem mitbestimmungsfreien Arbeitsverhalten zurechnen läßt. Die Mitbestimmungspflichtigkeit der hier zu beurteilenden Gespräche ergibt sich nämlich unabhängig von den Fernzielen, die die Arbeitgeberin verfolgen mag, jedenfalls aus der Art ihrer Durchführung. Umstrittener Regelungsgegenstand ist nicht das "Krankheitsverhalten", sondern das Verhalten der Arbeitnehmer bei der Führung der Gespräche selbst. Dieses gehört aber nicht unmittelbar zur Erbringung der Arbeitsleistung.

Ziel der Arbeitgeberin war nach ihrer Darlegung die Aufklärung der Ursachen für die erhöhten Fehlzeiten im Furnierwerk. Die Maßnahme sei erforderlich gewesen, um eventuelle arbeitsplatzspezifische Einflüsse erkennen und abstellen zu können. Es geht also um eine betriebliche Aufklärungsaktion. Mit der Heranziehung zu den Krankengesprächen wurden die Arbeitnehmer aufgefordert, an der Aufklärung mitzuwirken. Bei einer solchen Mitwirkung erfüllen die Arbeitnehmer eine arbeitsvertragliche Nebenpflicht. Dieser Bereich ist dem Ordnungsverhalten zuzurechnen.

b) Werden die Gespräche in einer generalisierten Art und Weise durchgeführt, wie sie die Arbeitgeberin hier praktiziert hat, handelt es sich ferner um einen kollektiven Tatbestand, der einer generellen Regelung zugänglich ist und die Mitbestimmung des Betriebsrats erforderlich macht. Eine mitbestimmungsfreie Individualmaßnahme läge nur vor, wenn sie allein durch Umstände veranlaßt wäre, die in der Person einzelner Arbeitnehmer begründet wären, ohne die übrige Belegschaft zu berühren. Diese Voraussetzungen waren vorliegend nicht gegeben. Bereits die Auswahl der Arbeitnehmer, die zu den Krankengesprächen herangezogen wurden, erfolgte nach einer abstrakten Regel. Befragt wurden alle Arbeitnehmer mit mehr als 25 bis 30 Tagen Ausfallzeit im Jahr, bezogen auf die letzten drei Jahre. Die Zahl der auf diese Weise ermittelten Arbeitnehmer war mit ca. 10 % der Gesamtbelegschaft erheblich. Die Bündelung der Gespräche auf einen Zeitraum von ca. einer Woche kennzeichnet zusätzlich den Aktionscharakter der Maßnahme. Ein kollektiver Bezug ergibt sich ferner auch aus der Formalisierung des Verfahrens. Der gleichförmige Ablauf und die generelle Aufforderung zu einer schriftlichen Entbindung des behandelnden Arztes von der Schweigepflicht machen das Regelungsbedürfnis deutlich. Es geht um die Frage, wie sich die Arbeitnehmer gegenüber einer solchen Aufforderung und während der Gespräche verhalten sollen. Diese Frage stellt sich für alle Arbeitnehmer wegen des formalisierten Ablaufs in gleicher Weise. Schon deshalb besteht auch ein Bedürfnis an einer allgemeinen Regelung, an der der Betriebsrat zu beteiligen ist.

Das die Beteiligung des Betriebsrats erfordernde Schutzbedürfnis ergibt sich in besonderer Weise aus dem Gesprächsgegenstand. Die Frage nach Krankheiten und ihren Ursachen berührt die Privatsphäre. Mit der Entbindung des Arztes von der Schweigepflicht läßt der Arbeitnehmer einen erheblichen Eingriff in den durch sein Persönlichkeitsrecht geschützten Bereich zu. Auch wenn diese Erklärung freigestellt wird, entsteht doch ein faktischer Zwang, dem sich ein Arbeitnehmer häufig nicht entziehen kann. Das zeigt schon der Umstand, daß im Streitfall 90 % der Befragten ihren Arzt von der Schweigepflicht befreiten. Das Bedürfnis nach einer mitbestimmten Regelung, in der die Voraussetzungen und Verfahrensregeln solcher Gespräche festgelegt werden, ist offensichtlich.

c) Das Landesarbeitsgericht hat dem Antrag des Betriebsrats daher zu Recht stattgegeben. Es bedarf bei dieser Sachlage keiner Auseinandersetzung mit der weiteren vom Landesarbeitsgericht aufgeworfenen Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen sich ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Führung von Krankengesprächen auch aus § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG ableiten läßt.