Mitbestimmung bei Akkord

BAG 1 ABR 12/86 vom 24. Nov. 1987

Leitsatz

1. Der Betriebsrat hat mitzubestimmen darüber, ob innerhalb eines Akkordlohnsystems die in der Vorgabezeit enthaltene Erholungszeit zu feststehenden Kurzpausen zusammengefaßt werden soll.

2. Die Tarifvertragsparteien können bestimmen, daß die tarifliche Regelung einer Angelegenheit - hier der Akkordentlohnung - Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats nicht ausschließt.

Gründe

A. Der Arbeitgeber betreibt eine Frottierweberei. Er gehört dem Verband der Nord-Westdeutschen Textilindustrie e.V. an. In seinem Betrieb werden ca. 115 Arbeitnehmer beschäftigt. Die Gewerkschaft Textil und Bekleidung ist im Betrieb vertreten. Es besteht ein Betriebsrat.

In der Näherei wird einschichtig von 7.15 Uhr bis 16.00 Uhr mit Pausen von 9.00 Uhr bis 9.15 Uhr und 12.30 Uhr bis 13.00 Uhr an Automaten zum Nähen von Knopflöchern und Knöpfen sowie zum Seitenschließen von Bettbezügen und Kopfkissen gearbeitet. Der Betriebsrat beschloß am 16. August 1983 für die bis dahin im Zeitlohn beschäftigten Arbeiterinnen, eine andere Entlohnung zu verlangen. Er forderte, ein Zeitakkordsystem einzuführen, wobei zum Schutz vor Überforderung die in der Vorgabezeit enthaltenen Erholungszeiten durch die Bündelung zu mehreren Kurzpausen "sichtbar" gemacht werden sollte. Am 1. Februar 1984 schloß der Betriebsrat mit dem Arbeitgeber eine "Betriebsvereinbarung" über die Einstufung der Näherinnen "in die Lohngruppe III des LTV". Weiterhin einigten sich die Beteiligten über alle weiteren Einzelheiten eines Zeitakkordlohnsystems mit Ausnahme der vom Betriebsrat verlangten Bündelung der Erholungszeiten. Nach der getroffenen Abrede sind in der Zeitvorgabe 10 % Erholungszeit, bezogen auf die Grundzeit, enthalten. Dies bedeutet, daß bei 480 Minuten Schichtzeit neben der gesondert berücksichtigten Verteilzeit 41,7 Minuten als Erholungszeit vorgegeben werden. Während der Arbeitgeber darauf beharrte, die Nutzung der Erholungszeit dem individuellen Bedürfnis der einzelnen Arbeitnehmerinnen zu überlassen, verlangte der Betriebsrat 3/4 der Erholungszeit zu drei jeweils zehnminütigen Kurzpausen zusammenzufassen. Um das Zeitakkordsystem einführen zu können, einigten sich beide Beteiligte darauf, diese Frage zunächst auszuklammern, bis der Betriebsrat eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung im Beschlußverfahren herbeigeführt habe. Seit dem 4. Quartal 1984 wird in der Näherei auch tatsächlich im Akkord gearbeitet.

Im Betrieb des Arbeitgebers findet der Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer der Textilindustrie in Westfalen und im Regierungsbezirk Osnabrück vom 9. Mai 1985 (MTV), in Kraft getreten am 1. Januar 1986, Anwendung. Dieser bestimmt - wortgleich mit dem früheren Manteltarifvertrag vom 15. Juli 1966 -, soweit hier von Bedeutung:

§ 11

Allgemeine Lohnbestimmungen

1. Arbeiten, die nach den betrieblichen Gegebenheiten verrichtet werden können, müssen auch entsprechend vergeben werden.

2. In den Fällen, in denen keine Akkordentlohnung durchführbar ist, soll nach Möglichkeit Prämienentlohnung erfolgen.

3. Diese und die nachfolgenden Bestimmungen dieses Paragraphen enthalten keine tarifliche Regelung im Sinne des § 56 Abs. 1 erster Halbsatz BetrVG.

A. Zeitlohnarbeit

B. Akkordarbeit

1. Die Akkordansätze (Zeit- oder Geld- bzw. Stückakkord) sind mit dem Betriebsrat so zu vereinbaren, daß bei Hergabe einer normalen Leistung unter den im Betrieb gegebenen Arbeitsbedingungen ein Akkordverdienst in Höhe des ARS erreicht wird. Der ARS darf nur unterschritten werden, wenn die Gründe für den Minderverdienst nachweisbar in der Person des (der) Akkordarbeiters(in) liegen.

2. Als normale Leistung gilt jene menschliche Leistung, die von einem (einer) geeigneten, eingearbeiteten und geübten Arbeiter(in) erreicht werden kann, ohne daß auf die Dauer Gesundheitsschäden eintreten. Angemessene Zeiten für persönliche Bedürfnisse und Erholung, soweit solche nicht schon nachweislich in erforderlichem Umfange durch den Arbeitsablauf gegeben sind, sind beim Akkordansatz zu berücksichtigen.

3. Die Höhe des ARS ergibt sich aus dem jeweiligen Lohntarifvertrag. Bei Akkordarbeit sind Altersklassenabschläge unzulässig."

In der Anlage 2 zum Lohntarifvertrag vom 1. Juni 1983 heißt es:

"Für Arbeiten in fließender Fertigung wird ein Zuschlag von 5 Prozent auf die Tariflohnsätze gezahlt. Arbeitnehmer, die in fließender Fertigung beschäftigt sind, erhalten bei achtstündiger Arbeitszeit bezahlte Bandpausen von insgesamt 40 Minuten. Verändert sich die Arbeitszeit nach unten oder oben, so verändern sich im gleichen Verhältnis die Bandpausen.

Fließende Fertigung liegt vor, wenn der Arbeitstakt durch akustische oder optische Zeichen oder durch automatische Fortbewegung des Arbeitsgutes oder sonstwie zwangsläufig gesteuert wird und der Arbeitnehmer gezwungen ist, den Arbeitstakt einzuhalten."

Der Betriebsrat hat mit Rücksicht auf die getroffene Vereinbarung das vorliegende Verfahren anhängig gemacht und beantragt festzustellen, daß ihm ein Mitbestimmungsrecht bei der Festlegung der zeitlichen Lage der Erholungszeiten im Rahmen der Zeitakkordentlohnung in der Näherei zusteht.

Der Arbeitgeber hat beantragt, den Antrag zurückzuweisen. Er hat geltend gemacht: Nach dem Tarifwerk der Textilindustrie sei nur in der fließenden Fertigung die Bündelung von Erholungszeiten zu Kurzpausen zulässig. Diese tarifliche Regelung sei abschließend. Im übrigen bestehe für ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats keine Rechtsgrundlage. Die Lage der Erholungszeiten sei eine Angelegenheit der Arbeitsgestaltung, die dem Arbeitgeber vorbehalten sei.

Das Arbeitsgericht hat dem Antrag stattgegeben. Die Beschwerde des Arbeitgebers blieb erfolglos. Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt der Arbeitgeber seinen Abweisungsantrag weiter, während der Betriebsrat um Zurückweisung der Rechtsbeschwerde bittet.

B. Die Rechtsbeschwerde des Arbeitgebers ist nicht begründet.

II. Der Antrag des Betriebsrats ist auch begründet. Der Betriebsrat hat mitzubestimmen bei der Frage, ob im Rahmen eines Akkordsystems Erholungszeiten ganz oder teilweise zu feststehenden Kurzpausen zusammengefaßt werden sollen.

1. Das Landesarbeitsgericht hat die Grundlage für dieses Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats in § 87 Abs. 1 Nr. 11 BetrVG gesehen. Die Erholungszeit sei Teil der Vorgabezeit, die nach dieser Bestimmung mitbestimmungspflichtig sei. Deren Dauer und zeitliche Lage seien so eng miteinander verbunden, daß beide Aspekte nur als Einheit zu verstehen seien und insgesamt der Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 11 BetrVG unterlägen. Dieser Begründung vermag der Senat nicht zu folgen.

a) Zutreffend ist der Ausgangspunkt des Landesarbeitsgerichts, daß die Erholungszeit Teil der Vorgabezeit ist und der Betriebsrat daher bei der Festsetzung der Erholungszeit als Teil des Akkordsatzes nach § 87 Abs. 1 Nr. 11 BetrVG mitzubestimmen hat. Das gilt jedoch nur hinsichtlich der Dauer der Erholungszeit. § 87 Abs. 1 Nr. 11 BetrVG will mit Rücksicht auf die Gefahren eines Leistungslohnsystems die Beteiligung des Betriebsrats an denjenigen Entscheidungen sicherstellen, die die Ermittlung und Bewertung der jeweils zu vergütenden Leistung zum Inhalt haben. Die dabei notwendig werdende Beurteilung bestimmter Vorgänge und Daten soll durch Arbeitgeber und Betriebsrat gemeinsam erfolgen. Die Festlegung der Dauer der Erholungszeit innerhalb einer Akkordaufgabe macht eine solche gemeinsame Beurteilung des Arbeitsvorganges und der von ihm

ausgehenden Beanspruchung des Arbeitnehmers erforderlich.

b) Von der Dauer der Erholungszeit zu unterscheiden ist ihre zeitliche Lage. Der Ansatz einer vom Arbeitsvorgang her erforderlichen Erholungszeit innerhalb der Vorgabezeit besagt für sich allein nur, daß der Erholungsbedürftigkeit des Arbeitnehmers bei der Festsetzung der Akkordsätze Rechnung getragen worden ist, der Arbeitnehmer die erforderliche Erholung daher durch entsprechende Unterbrechungen der Arbeit herbeiführen und gleichwohl den "richtigen" Akkordlohn verdienen kann. Verbleibt es bei der Festlegung einer Erholungszeit als Teil der Vorgabezeit, so kann der Arbeitnehmer diese Erholungszeit nach eigenen Bedürfnissen zur Regeneration seiner körperlichen Kräfte nutzen, sie aber auch bei tatsächlicher oder vermeintlicher geringerer Erholungsbedürftigkeit zu einer zusätzlichen Leistung und damit zur Erzielung eines höheren Verdienstes verwenden. Diese Freiheit wird dem Arbeitnehmer genommen, wenn die Erholungszeiten zu feststehenden Kurzpausen zusammengefaßt werden, in denen der Arbeitnehmer sich tatsächlich erholen muß, die er jedenfalls nicht zu zusätzlicher Leistung und damit zu einem höheren Akkordverdienst nutzen kann.

Mittelbar führt diese Ausgestaltung auch zu einem modifizierten Akkordlohnsystem. Derjenige Arbeitnehmer, dessen Leistung unter der Normalleistung bleibt, erhält im Ergebnis pro Zeiteinheit einen höheren Verdienst. Derjenige Arbeitnehmer, dessen Leistung über der Normalleistung liegt, wird im Ergebnis geringer vergütet. Der Grundsatz, daß der Akkordverdienst durchweg proportional der Mehrleistung ist, wird zumindest abgeschwächt. Das beruht darauf, daß die erforderliche Erholungszeit immer, aber auch nur, in dem Umfang vergütet wird, in dem sie zu Kurzpausen zusammengefaßt ist, unabhängig davon, wieviel Erholungszeit dem Arbeitnehmer entsprechend seiner Leistung vergütet werden müßte.

Damit wird deutlich, daß die unter den Beteiligten hinsichtlich ihrer Mitbestimmungspflichtigkeit strittige Frage eine solche der näheren Ausgestaltung der Lohnform "Akkord" und damit eine Frage der betrieblichen Lohngestaltung ist. Bei dieser hat der Betriebsrat nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG mitzubestimmen. Mitbestimmungspflichtig nach dieser Bestimmung ist die Ausformung des jeweiligen Entlohnungssystems und damit die Festlegung all derjenigen Elemente, die dieses System im einzelnen ausgestalten und zu einem in sich geschlossenen System machen, das sich zu anderen möglichen Systemen eines Akkordlohnes abgrenzen läßt.

c) Dieses Mitbestimmungsrecht hinsichtlich der Ausgestaltung des konkreten Akkordlohnsystems entfällt nicht deswegen, weil die Betriebspartner sich darauf geeinigt haben, die Zeiten innerhalb des Akkordlohnes nach dem REFA-Verfahren zu bestimmen. Das REFA-Verfahren bestimmt nicht selbst, wie die erforderlichen Erholungszeiten zu gewähren sind, läßt die Regelung dieser Frage vielmehr offen. Darüber hinaus sind die Betriebspartner nicht darauf beschränkt, ein bestimmtes arbeitswissenschaftliches Akkordsystem zu vereinbaren. Sie können dessen Anwendung auch in modifizierter Form vorsehen.

d) Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats ist auch nicht deswegen ausgeschlossen, weil die Zusammenfassung von Erholungszeiten zu Kurzpausen die äußere Arbeitsgestaltung, die Organisation der Akkordarbeit berührt. Es gibt keinen Rechtsgrundsatz des Inhalts, daß Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats insoweit zurücktreten müssen, als durch ihre Ausübung die dem Arbeitgeber vorbehaltene Organisation des Arbeitsablaufes berührt wird. Insoweit gilt nichts anderes als hinsichtlich des Verhältnisses von Mitbestimmungsrechten des Betriebsrats zur unternehmerischen Entscheidungsfreiheit. Ob und inwieweit Notwendigkeiten eines geordneten und wirtschaftlich sinnvollen Arbeitsablaufes sowie technische Zwänge einer Zusammenfassung von Erholungszeiten zu feststehenden Kurzpausen entgegenstehen, ist von der Einigungsstelle ebenso zu bewerten und zu entscheiden wie die Frage, ob und in welchem Umfang feststehende Kurzpausen aus arbeitsmedizinischer Sicht sinnvoller sind als eine Regelung, die den Arbeitnehmern die Freiheit beläßt, Erholungszeiten nach dem jeweiligen persönlichen Bedürfnis zur Erholung zu nutzen.

2. Dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats steht eine bestehende tarifliche Regelung dieser Angelegenheit gemäß dem Eingangssatz von § 87 Abs. 1 BetrVG nicht entgegen.

Das folgt schon aus § 11 Nr. 3 MTV. Nach dieser Bestimmung sollen weder § 11 noch die nachfolgenden Bestimmungen eine tarifliche Regelung im Sinne des § 56 Abs. 1 Halbsatz 1 BetrVG enthalten. Diese Bestimmung ist wie die gesamte Regelung des § 11 MTV aus dem Manteltarifvertrag 1966 in den Manteltarifvertrag vom 9. Mai 1985 übernommen worden. Die seinerzeit in Bezug genommene Vorschrift des § 56 Abs. 1 Halbsatz 1 BetrVG entspricht heute wörtlich der Regelung im Eingangssatz von § 87 Abs. 1 BetrVG.

Sinn dieser tariflichen Bestimmung ist es, die Sperrwirkung der in § 11 MTV enthaltenen tariflichen Lohnbestimmungen für Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats nach dem Betriebsverfassungsgesetz aufzuheben.

Eine solche tarifliche Regelung ist zulässig. Eine tarifliche Regelung schließt gesetzliche Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 BetrVG dann nicht aus, wenn sie den Betriebspartnern eine nähere Ausgestaltung der Regelung zuweist. Den Tarifvertragsparteien kann nicht verwehrt werden, eine Angelegenheit tariflich subsidiär zu regeln, wenn es ihnen gestattet ist, durch Verzicht auf eine eigene tarifliche Regelung ein gesetzlich gegebenes Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats zum Tragen kommen zu lassen. Wenn das Betriebsverfassungsgesetz zum Schutz der Tarifautonomie tarifvertraglichen Regelungen grundsätzlich den Vorrang einräumt vor betrieblichen Regelungen, so hindert das doch die Tarifvertragsparteien nicht, diesen Vorrang für eine tarifvertragliche Regelung nicht in Anspruch zu nehmen und damit einer mitbestimmten Regelung durch die Betriebspartner den Vorrang einzuräumen. Das ist hier durch die Regelung in § 11 Nr. 3 MTV geschehen.

Damit kann dahingestellt bleiben, ob eine tarifliche Regelung der Akkordarbeit, wie sie unter § 11 B MTV erfolgt ist, der Zusammenfassung von Erholungszeiten zu feststehenden Kurzpausen entgegensteht.

Wegen der subsidiären Geltung der tariflichen Lohnbestimmungen verbietet sich auch die Annahme, aus der Anlage 2 zum Lohntarifvertrag ergebe sich ein Verbot der Zusammenfassung von Erholungszeiten zu feststehenden Kurzpausen. Nach der Anlage 2 zum Lohntarifvertrag, dem Tätigkeitsverzeichnis für die einzelnen Lohngruppen, sollen Arbeitnehmer der "Garn verarbeitenden Stufe", hier in der Näherei, die in fließender Fertigung arbeiten, bezahlte Bandpausen von insgesamt 40 Minuten erhalten. Das gilt auch und gerade für die Arbeit im Zeitlohn. Diese tarifliche Regelung ist jedoch keine abschließende Regelung des Inhalts, daß bezahlte (Kurz-)Pausen im übrigen unzulässig sind.