Mitbestimmung des Betriebsrats bei Anrechnung von Tariflohnerhöhungen auf übertarifliche Zulagen

BAG 1 AZR 279/90 vom 11. Aug. 1992

Leitsatz

Der Betriebsrat hat nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG mitzubestimmen, wenn der Arbeitgeber eine Tariflohnerhöhung auf die übertariflichen Zulagen aller Arbeitnehmer angerechnet hat, um das durch die Anrechnung eingesparte Zulagenvolumen künftig nach anderen Grundsätzen zu verteilen..

Rechnet der Arbeitgeber bei einer solchen Fallgestaltung die Tariflohnerhöhung auf alle Zulagen an, ohne den Betriebsrat zu beteiligen, ist die Anrechnung gegenüber den einzelnen Arbeitnehmern unwirksam.

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen die Anrechnung einer tariflichen Lohnerhöhung auf einen übertariflichen Lohnbestandteil und fordert zugleich für den Monat Juli 1989 die Nachzahlung des entsprechenden Differenzbetrages.

Der Kläger war seit 1. April 1964 aufgrund eines mündlich abgeschlossenen Arbeitsvertrages bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten, einem Unternehmen des Aufzugsbaus, als Monteur beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis kommt das Tarifwerk für das metallverarbeitende Handwerk Berlin einschließlich der jeweils geltenden Lohntarifverträge zur Anwendung.

Mit Wirkung ab 1. August 1981 wurde der Kläger von der Beklagten übernommen. In dem aus diesem Anlaß abgeschlossenen schriftlichen Arbeitsvertrag ist hinsichtlich der Entlohnung bestimmt:

"Grundlage der Entlohnung ist die Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ... Der den Tariflohn etwa übersteigende Teil des Lohnes ist keine Leistungszulage und wird ohne Rechtspflicht unter dem Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs und der Anrechnung bei Lohntariferhöhungen gewährt ...".

Mit Ausnahme der Tariflohnerhöhung vom März 1986 gewährte die Beklagte dem Kläger bei sämtlichen tariflichen Lohnerhöhungen den schon von ihrer Rechtsvorgängerin gezahlten übertariflichen Zuschlag ungekürzt weiter, letztmalig anläßlich der Tariflohnerhöhung von Januar 1989. Im Zusammenhang mit der Weitergabe der jeweiligen Tariflohnerhöhungen übermittelte die Beklagte dem Kläger ebenso wie sämtlichen anderen Arbeitnehmern ein formularmäßiges Schreiben mit dem Inhalt:

"Bei übertariflichen Bestandteilen handelt es sich um freiwillige, jederzeit nach freiem Ermessen widerrufliche Leistungen, auf die auch bei wiederholter Gewährung kein Rechtsanspruch besteht. Diese Leistungen können auch jederzeit ganz oder teilweise auf tarifliche Veränderungen und tarifliche Umgruppierungen angerechnet werden."

Die aus Anlaß der tariflichen Arbeitszeitverkürzung ab 1. Juli 1989 in Kraft getretene Tariflohnerhöhung von 2,7 % hat die Beklagte beim Kläger in vollem Umfang auf den übertariflichen Lohnbestandteil angerechnet. Dies teilte sie dem Kläger ebenso wie den übrigen Arbeitern mit einem formularmäßigen Schreiben vom 31. Juli 1989 mit. Der Kläger erhielt bis 30. Juni 1989 einen Tariflohn von 15,49 DM und eine übertarifliche Zulage von 2,88 DM. Ab 1. Juli 1989 sollte er einen Tariflohn von 15,91 DM und eine freiwillige übertarifliche Zulage von 2,46 DM erhalten, sein Gesamtstundenlohn sollte also auch nach dem 1. Juli 1989 18,37 DM betragen.

Diese Anrechnung begründete die Beklagte gegenüber ihrer aus 42 Arbeitern und 13 Angestellten bestehenden Belegschaft unter dem 1. August 1989 mit folgendem Aushang:

"An alle Mitarbeiter

Wir verstehen die Verärgerung aller Mitarbeiterbezüglich der 2,7 % Lohnausgleichszahlung auf den Tariflohn. Auch die Geschäftsleitung und die Eigentümer der Firma D sind über die hohen Kosten der Betriebsratsarbeit und über zum Teil stark überzogene Neubau- und Kleinstangebotsarbeiten zu fest kalkulierten Preisen bzw. Stunden besonders verärgert.

Diese schlechten Einflüsse hatten für das Jahr 1988 ein Minus von ca. 120.000,-- DM zur Folge. Allein der vor kurzem geführte Prozeß des Betriebsrates vor dem Arbeitsgericht gegen die Firma D mit Rechtsanwälten, Einigungsstelle und Arbeitszeitausfall hat der Firma ca. 10.000,-- DM gekostet. Ein Mißerfolg des Betriebsrates. Dieser Riesenaufwand für eine 1/4 Stunde pro Tag.

Die angerechnete freiwillige übertarifliche Zulage ist bei allen Mitarbeitern erfolgt. Im Hinblick auf Konkurrenzfähigkeit, gesicherte Arbeitsplätze und auf die geplanten und durchzuführenden Neubaumaßnahmen zukunftsorientierter Arbeitsplätze sind alle Arbeitnehmer und auch Eigentümer zu besonderer Sparsamkeit und vernünftiger Arbeitsweise aufgefordert.

Die 2,7 % Tariflohnerhöhung sind kein Nachteil, sondern ein Vorteil bei der ab 1. Januar 1990 stattfindenden weiteren Tariflohnerhöhung von 2,5 % bzw. einer weiteren neuen Tariflohntabelle ab 1. Juli 1990 mit einer Erhöhung von 1,4 %. Wir können bei einem besseren Jahresergebnis für 1989 unsere ehrlichen und fleißigen Mitarbeiter mit Leistungszulagen bzw. Prämien belohnen und werden das auch durchführen.

Den Querulanten, Zuspätkommern und "Krankfeiernden" erteilen wir auch zur Gerechtigkeit der ehrlichen Mitarbeiter eine eindeutige Absage. Wir möchten nicht nur Kritik üben, sondern auch allen Mitarbeitern, die es verdient haben, besonders danken.

Unsere Maßnahme ist mit der Innung abgeklärt und beruht auf einer Grundsatzentscheidung des Bundesarbeitsgerichts.D dieses Urteil hängen wir in Kürze aus."

Der von der Beklagten an der Anrechnung der Tariflohnerhöhung auf die übertariflichen Lohnbestandteile nicht beteiligte Betriebsrat widersprach der Anrechnung mit einem Schreiben vom 3. August 1989 unter Hinweis auf das von ihm in Anspruch genommene Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG.

Ab 1. Juli 1989 hat die Beklagte dem Arbeiter S erstmalig eine übertarifliche Zulage in Höhe von 0,50 DM brutto gezahlt, die sie mit Wirkung ab 1. September 1989 um weitere 1,00 DM brutto pro Stunde erhöht hat. Ebenfalls mit Wirkung ab 1. September 1989 hat die Beklagte dem Arbeiter Y eine übertarifliche Zulage von 1,00 DM brutto pro Stunde gezahlt. Zur gleichen Zeit ist der Arbeiter M in eine höhere Lohngruppe eingestuft worden. Mit Wirkung ab September 1989 hat die Beklagte an eine unbekannt gebliebene Anzahl von Mitarbeitern Prämien in gleichfalls unbekannt gebliebener Höhe ausgezahlt. Eine vom Betriebsrat mit Schreiben vom 18. Oktober 1989 an die Beklagte gerichtete Bitte um nähere Auskunft über die Prämien und die Beachtung seiner Mitbestimmungsrechte ist von der Beklagten nicht beantwortet worden.

Nachdem der Kläger gegenüber der Beklagten bereits mit einem Schreiben vom 3. August 1989 der Anrechnung widersprochen und mit einem Schreiben vom 18. August 1989 den Differenzbetrag für den Monat Juli 1989 in der rechnerisch unstreitigen Höhe von 69,61 DM brutto geltend gemacht hatte, fordert er mit der Klage die Zahlung dieses Differenzbetrages für den Monat Juli 1989 und darüber hinaus die Feststellung, daß die ab 1. Juli 1989 vorgenommene Anrechnung unzulässig sei.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Anrechnung sei aus mehreren rechtlichen Gesichtspunkten unzulässig. Die Anrechnung stelle eine Lohnänderung dar, der gemäß § 3 Abs. 2 des Lohntarifvertrages eine ordentliche Änderungskündigung vorauszugehen habe. Die Anrechnung sei zudem unwirksam, weil der Betriebsrat der Anrechnung der freiwilligen übertariflichen Zulagen nicht zugestimmt habe. Außerdem verstoße die Anrechnung gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, da seit 1. Juli 1989 erstmalig an mehrere Mitarbeiter übertarifliche Zulagen gezahlt worden seien. Das gilt auch für den Arbeiter M , der bei gleichbleibender Tätigkeit höhergruppiert worden sei.

Der Kläger hat beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an ihn 69,61 DM brutto nebst 4 % Zinsen seit dem 14. September 1989 zu zahlen;

2. festzustellen, daß die von der Beklagten mit Schreiben vom 31. Juli 1989 vorgenommene Anrechnung der übertariflichen Zulage um 0,42 DM unzulässig ist.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, die vollständige Anrechnung der Tariflohnerhöhung auf die übertariflichen Lohnbestandteile sei zulässig. Bezüglich des Arbeiters S hat die Beklagte behauptet, dieser habe die Zulage deshalb erhalten, weil er vom Hilfsmonteur zum Werkstattmonteur aufgestiegen sei. Insoweit hat die Beklagte erklärt, über die Zahlung einer übertariflichen Zulage werde im Einzelfall entschieden, wobei Fleiß, Zuverlässigkeit, Betriebstreue etc. die maßgebenden Kriterien seien. Diese Kriterien hätten auch der im September 1989 gezahlten Prämie zugrunde gelegen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht der Klage stattgegeben. Mit der zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter, während der Kläger um Zurückweisung der Revision bittet.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Dem Kläger steht nach §§ 611614 BGB in Verbindung mit seinem Arbeitsvertrag für den Monat Juli 1989 der Betrag von 69,61 DM brutto als Vergütung zu. Hierbei handelt es sich um die Differenz zwischen der ihm gewährten übertariflichen Zulage von 2,46 DM und der von ihm beanspruchten übertariflichen Zulage von 2,88 DM. Er hat auch über den 1. August 1989 hinaus einen Anspruch auf eine übertarifliche Zulage in dieser Höhe. Die Anrechnung der Beklagten der zum Ausgleich für die Arbeitszeitverkürzung ab 1. Juli 1989 vereinbarten Tariflohnerhöhung um 2,7 % auf die ihm bis dahin gewährte übertarifliche Zulage von 2,88 DM ist unwirksam.

1. Mit Recht hat das Landesarbeitsgericht angenommen, der Kläger habe keinen vertraglichen Anspruch auf Fortzahlung der Zulage in der bisherigen Höhe ab 1. Juli 1989. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann der Arbeitgeber übertarifliche Zulagen im Falle einer Tariflohnerhöhung grundsätzlich auf den Tariflohn anrechnen, es sei denn, dem Arbeitnehmer würde aufgrund einer vertraglichen Abrede die Zulage als selbständiger und beständiger Lohnbestandteil neben dem jeweiligen Tariflohn zustehen. Hierbei kann sich eine stillschweigende Vereinbarung der Zulage zum jeweiligen Tariflohn auch aus einer betrieblichen Übung, den besonderen Umständen bei den Vertragsverhandlungen oder dem Zweck der Zulage ergeben, z.B. bei einer Leistungszulage. Mangels gegenteiliger vertraglicher Vereinbarung verringert sich der übertarifliche Lohn um den Betrag der Tariflohnerhöhung. Daher kann in der tatsächlichen Zahlung einer übertariflichen Zulage allein noch nicht die vertragliche Abrede erblickt werden, die Zulage solle auch nach einer Tariflohnerhöhung als selbständiger Lohnbestandteil neben dem künftigen Tariflohn gezahlt werden, es sei denn, dies ergäbe sich aus dem Zweck der Zulage. Diese Grundsätze gelten nach der Rechtsprechung selbst dann, wenn die übertarifliche Zulage über einen längeren Zeitraum vorbehaltslos zum Tariflohn gezahlt und bisher niemals mit Tariflohnerhöhungen verrechnet wurde.

Nach den Feststellungen des Arbeitsgerichts, auf die das Landesarbeitsgericht Bezug genommen hat, hat der Kläger selbst nicht behauptet, mit der Rechtsvorgängerin der Beklagten eine Abrede getroffen zu haben, nach der die Zulage beständig neben dem jeweiligen Tariflohn zu zahlen sei. Der für eine entsprechende betriebliche Übung notwendige Vertrauenstatbestand hat spätestens seit der Übernahme des Betriebes durch die Beklagte im Jahre 1981 nicht (mehr) bestanden. In dem schriftlichen Arbeitsvertrag aus dem Jahre 1981 hat die Beklagte sich vorbehalten, die übertarifliche Zulage jederzeit zu widerrufen und bei Tariflohnerhöhungen anzurechnen. Darauf hat die Beklagte den Kläger anläßlich aller seit 1981 erfolgten Tariflohnerhöhungen hingewiesen.

2. Die Anrechnung verstößt auch nicht gegen die Bestimmung des § 3 Abs. 2 des Lohntarifvertrages für das metallverarbeitende Handwerk Berlin vom 25. Juli 1980, wonach "Lohnänderungen zum Nachteil des Arbeitnehmers einer Änderungskündigung bedürfen". Bei der Anrechnung handelt es sich nicht um eine Lohnänderung, da sich der Gesamtstundenlohn des Klägers nicht verringert hat.

3. Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht aber angenommen, der Kläger habe einen Anspruch auf Zahlung der ungekürzten Zulage von 2,88 DM auch über den 1. Juli 1989 hinaus, da die Beklagte das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Anrechnung der Tariflohnerhöhung auf übertarifliche Zulagen nicht beachtet habe.

Die Anrechnung einer Tariflohnerhöhung auf übertarifliche Zulagen und der Widerruf von übertariflichen Zulagen aus Anlaß und bis zur Höhe einer Tariflohnerhöhung unterliegen nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG der Mitbestimmung des Betriebsrats, wenn sich infolge der Anrechnung die Verteilungsgrundsätze ändern und darüber hinaus für eine anderweitige Anrechnung bzw. Kürzung ein Regelungsspielraum verbleibt. Dies gilt unabhängig davon, ob die Anrechnung durch gestaltende Erklärung erfolgt oder sich automatisch vollzieht. Zahlt der Arbeitgeber - wie im vorliegenden Fall - unterschiedlich hohe Zulagen zum jeweiligen Tariflohn, ändert sich bei einer gleichmäßigen prozentualen Anrechnung einer Tariflohnerhöhung notwendigerweise das Verhältnis der Höhe der Zulagen zueinander; eine solche Änderung stellt eine Änderung des Verteilungsgrundsatzes dar, so daß grundsätzlich ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG besteht.

Die Änderung der Verteilungsgrundsätze infolge Widerrufs oder Anrechnung einer Tariflohnerhöhung auf übertarifliche Zulagen unterliegt aber nur grundsätzlich der Mitbestimmung des Betriebsrats. Für ein Mitbestimmungsrecht ist dann kein Raum, wenn für eine anderweitige Anrechnung bzw. Kürzung kein Regelungsspielraum mehr besteht, weil der Arbeitgeber die Tariflohnerhöhung auf die Zulagen aller Arbeitnehmer voll und gleichmäßig anrechnet.

Vorliegend hat die Beklagte die Tariflohnerhöhung nicht bei allen Arbeitnehmern voll und gleichmäßig angerechnet. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts hat die Beklagte vielmehr anläßlich der Tariflohnerhöhung vom Juli 1989 die Entscheidung getroffen, bei einem Teil ihrer Arbeitnehmer die übertarifliche Zulage anzurechnen, einem anderen Teil aber aus diesem Zulagenvolumen erstmals in unterschiedlicher Höhe und auch als Prämien übertarifliche Zulagen zu zahlen. Diese Feststellung ist von der Beklagten mit Verfahrensrügen nicht angegriffen worden, so daß der Senat nach § 561 Abs. 2 ZPO insoweit gebunden ist. Hat die Beklagte aber nur einem Teil der Arbeitnehmer die Tariflohnerhöhung auf die übertarifliche Zulage angerechnet, hat sich nicht nur der Verteilungsgrundsatz geändert, sondern es bleibt auch ein Spielraum für eine andere Verteilung des gekürzten Zulagenvolumens, der stets Voraussetzung für ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG ist. Anstatt die Tariflohnerhöhung voll auf die übertariflichen Zulagen eines Teils der Arbeitnehmer anzurechnen, wäre auch eine teilweise gleichmäßige Anrechnung auf die übertariflichen Zulagen aller Arbeitnehmer vorstellbar oder eine ungleichmäßige nach anderen Kriterien. Da die Beklagte das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nicht beachtet hat, ist die Anrechnung der Tariflohnerhöhung gegenüber dem Kläger unwirksam.