Mitbestimmung bei Umsetzung verkürzter tariflicher Arbeitszeit

BAG Erfurt Az. 1 ABR 31/90 vom 19. Feb. 1991

Leitsatz

1. Haben die Betriebsparteien sich über die Umsetzung einer tariflichen Änderung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit bis zum Inkrafttreten des Tarifvertrags nicht geeinigt, so ist der Arbeitgeber nicht berechtigt, Anfang und Ende der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Pausen sowie der Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage ohne Zustimmung des Betriebsrats einseitig festzulegen, solange die bisherige Verteilung der Arbeitszeit nach dem neuen Tarifvertrag beibehalten werden kann.

Tatbestand

A. Der Arbeitgeber ist ein Unternehmen der Druckindustrie und der Antragsteller der bei ihm gebildete Betriebsrat. Für die Arbeitnehmer des Betriebs gilt der Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer der Druckindustrie im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland vom 6. Mai 1987 (MTV). Arbeitgeber und Betriebsrat stritten ursprünglich darüber, ob der Arbeitgeber das Recht habe, die am 1. April 1988 in Kraft getretene tarifliche Arbeitszeitverkürzung in der Druckindustrie von wöchentlich 38,5 auf 37,5 Stunden einseitig umzusetzen, nachdem die angerufene Einigungsstelle bis zum 1. April 1988 keinen Beschluß gefaßt hatte. Da der Arbeitgeber bei dieser Konstellation in der Vergangenheit schon einmal die Arbeitszeit einseitig festgelegt hatte und sich berühmt, auch in Zukunft so verfahren zu dürfen, begehrt der Betriebsrat weiterhin die Feststellung, daß der Arbeitgeber bei einer Verkürzung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit im Tarifvertrag nicht berechtigt sei, die Arbeitszeitverkürzung einseitig umzusetzen.

§ 3 MTV lautet, soweit dies für den vorliegenden Fall interessiert:

"1. Die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit beträgt 38,5 Stunden. Ab 1. April 1988 beträgt die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit 37,5 Stunden, ab 1. April 1989 37 Stunden. Die wöchentliche Arbeitszeit ist für den einzelnen Arbeitnehmer auf fünf Tage zu verteilen ........ Arbeitszeitverteilungspläne über mehrere Wochen sind zulässig. ..."

Teil des Tarifvertrages sind Durchführungsbestimmungen zu den einzelnen Paragraphen. In der Durchführungsbestimmung zu § 3 heißt es:

"2. Die durch Verkürzung der Wochenarbeitszeit entstehende Freizeit ist auf der Basis einer Quartals-, Halbjahres- oder Jahresplanung, die jeweils rechtzeitig durch Betriebsvereinbarung zu regeln ist, wie folgt zu verteilen:

a) Verteilung gleichmäßig (ergibt 38,5/37,5/ 37 Stunden pro Woche) oder

b) bezahlte Freistellung in Stunden, verteilt auf die Arbeitswochen des Quartals, Halbjahres oder Jahres oder

c) bezahlte Freistellung in Tagen, verteilt auf die Arbeitswochen des Quartals, Halbjahres oder Jahres oder

d) Kombinationen aus b) bis c)."

Seit Einführung der 38,5-Stunden-Woche galt im Betrieb aufgrund eines Einigungsstellenspruchs vom 13. Januar 1986 folgende Arbeitszeitregelung:

Normalarbeitszeit:

Montag bis Donnerstag 7.00 - 16.00 Uhr

Freitag 7.00 - 12.45 Uhr

Schichtbereich

a) Frühschicht - Montag bis Donnerstag 6.00 - 14.15 Uhr; Freitag 6.00 - 12.45 Uhr

b) Spätschicht - Montag bis Donnerstag 14.00 - 22.15 Uhr; Freitag 12.30 - 19.15 Uhr.

Die Kernarbeitszeit begann um 9.00 Uhr und endete um 16.00 Uhr, die Gleitzeit lief von 7.00 Uhr bis 9.00 Uhr und 16.00 Uhr bis 18.00 Uhr.

Mit Schreiben vom 25. Juni 1987 wandte sich der Arbeitgeber an den Betriebsrat und teilte ihm mit, er benötige für die Umsetzung der Arbeitszeitverkürzung die Vorstellungen des Betriebsrats. Er sei der Auffassung, es sei sowohl für den Betriebsrat als auch für die Geschäftsleitung von Vorteil, frühzeitig in Verhandlungen einzutreten. Der Betriebsrat erwiderte mit Schreiben vom 2. Juli 1987, für die Diskussion im Betriebsrat sei es von Bedeutung, die Vorstellungen der Geschäftsleitung kennenzulernen. Er werde im Herbst 1987 mit einem Vorschlag für die neue Arbeitszeit nach dem MTV der Druckindustrie auf die Geschäftsleitung zukommen. Es bedürfe einer angemessenen Zeit der Meinungsbildung im Betrieb; zur Zeit seien die Betriebsratsmitglieder zum Teil noch im Urlaub. Mit Schreiben vom 5. November 1987 hat der Betriebsrat seine Vorstellungen zur Umsetzung der Arbeitszeitverkürzung dem Arbeitgeber mitgeteilt. Am 10. November 1987 erläuterte der Arbeitgeber erstmals, wie er sich die zukünftige Arbeitszeitregelung im Betrieb vorstelle. Nachdem dann in der Folgezeit die Verhandlungen über die Umsetzung der Arbeitszeitverkürzung um eine Stunde ab dem 1. April 1988 scheiterten, beantragte der Arbeitgeber am 28. März 1988 beim Arbeitsgericht die Bestellung eines Vorsitzenden der Einigungsstelle über diese Frage. Mit Aushang vom 31. März 1988 teilte er der Belegschaft mit, er setze einstweilen vorläufig die Arbeitszeit einseitig fest, und zwar für die Normalarbeitszeit montags bis donnerstags von 7.00 Uhr bis 15.45 Uhr, für die Frühschicht montags bis donnerstags von 6.00 Uhr bis 14.00 Uhr und für die Spätschicht montags bis donnerstags von 13.45 Uhr bis 21.45 Uhr.

Bereits im Jahre 1985 hatte der Arbeitgeber die ab dem 1. April 1985 geltende wöchentliche Arbeitszeit von 38,5 Stunden mangels Einigung der Betriebsparteien vor dem 1. April 1985 einseitig umgesetzt.

Mit dem vorliegenden Verfahren wendet sich der Betriebsrat gegen die einseitige Umsetzung der Verkürzung der Arbeitszeit.

Der Betriebsrat hat vorgetragen, wegen des zwingenden Mitbestimmungsrechts bei der Umsetzung der tariflichen Arbeitszeitverkürzung dürfe der Arbeitgeber diese nicht einseitig durchführen. Es liege weder ein Eil- noch ein Notfall vor. Die Eilbedürftigkeit der zu treffenden Maßnahme lasse ohnehin schon ein Mitbestimmungsrecht nicht entfallen.

Der Betriebsrat hat zunächst beantragt, dem Arbeitgeber aufzugeben, es zu unterlassen, die betriebliche Arbeitszeit einseitig ohne Zustimmung des Betriebsrats so festzulegen, daß die Normalarbeitszeit stattfindet in der Zeit von Montag bis Donnerstag 7.00 Uhr bis 15.45 Uhr, Freitag wie bisher 7.00 Uhr bis 12.45 Uhr und die Schichtarbeitszeit in der Frühschicht von Montag bis Donnerstag von 6.00 Uhr bis 14.00 Uhr und Freitag wie bisher von 6.00 Uhr bis 12.45 Uhr, in der Spätschicht Montag bis Donnerstag 13.45 Uhr bis 21.45 Uhr, Freitag wie bisher von 12.30 Uhr bis 19.15 Uhr, und die Sollarbeitszeit der Gleitzeit - Angestellte bei zunächst unveränderter Gleitzeitregelung - von Montag bis Donnerstag um eine Viertelstunde zu verringern.

Der Arbeitgeber hat beantragt, den Antrag abzuweisen.

Zur Begründung hat er vorgetragen, er sei zu der einseitigen vorläufigen Arbeitszeitregelung berechtigt, da er vor der Wahl gestanden habe, sich entweder tarifwidrig oder betriebsverfassungswidrig zu verhalten. Hierbei gehe seine Verpflichtung, sich tarifgemäß zu verhalten, vor. Er müsse sich nur eng an die bisherige Arbeitszeitregelung halten. Dies habe er getan.

Das Arbeitsgericht hat den Antrag abgewiesen. Gegen den Beschluß des Arbeitsgerichts hat der Betriebsrat Beschwerde eingelegt und in dem Beschwerdeverfahren den weiteren Antrag gestellt, festzustellen, daß der Arbeitgeber nicht berechtigt ist, die betriebliche Arbeitszeit einseitig ohne Zustimmung des Betriebsrats bei tariflicher Änderung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit festzulegen.

Zur Begründung dieses allgemeinen Antrags hat er vorgetragen, er habe unabhängig von dem sich möglicherweise erledigenden Anlaßfall ein Rechtsschutzinteresse für die Feststellung, daß der Arbeitgeber bei einer tariflichen Arbeitszeitverkürzung nicht einseitig die Arbeitszeit und die Verteilung der neuen wöchentlichen Arbeitszeit festlegen könne, da der Arbeitgeber in den Jahren 1985 und 1987 bereits zweimal so verfahren sei und zu erkennen gegeben habe, daß er auch in der Zukunft nicht anders handeln werde.

Das Landesarbeitsgericht hat die Beschwerde des Betriebsrats zurückgewiesen.

Mit der Rechtsbeschwerde verfolgt der Betriebsrat den in der zweiten Instanz gestellten Feststellungsantrag weiter und stellt hilfsweise erstmals den Antrag festzustellen, daß der Arbeitgeber nicht berechtigt ist, die Lage der Arbeitszeit ohne Zustimmung des Betriebsrats bei tariflicher Änderung des Volumens der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer einseitig festzulegen. Mit diesem sogenannten Hilfsantrag soll nach der Rechtsbeschwerdebegründung nur präzisiert werden, daß der Feststellungsantrag dahingehend zu verstehen sei, daß mit der betrieblichen Arbeitszeit Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Pausen sowie die Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage für die Arbeitnehmer des Betriebes zu verstehen sei. Der Arbeitgeber beantragt, die Rechtsbeschwerde zurückzuweisen.

Gründe

B. Die Rechtsbeschwerde ist begründet.

....

1. Nach § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG hat der Betriebsrat mitzubestimmen bei der Festlegung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Pausen sowie der Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage. Vorliegend ist dieses Mitbestimmungsrecht durch den Tarifvertrag nur insoweit eingeschränkt, als der Tarifvertrag für die Verteilung der verkürzten wöchentlichen Arbeitszeit die Betriebsparteien auf vier abschließende Grundmodelle verweist.

2. Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats entfällt nicht in sogenannten Eilfällen. Das hat der Senat in ständiger Recht-sprechung entschieden. Bereits zur Zeit des BetrVG 1952 war diese Frage umstritten. Trotz der damals geführten Diskussion hat der Gesetzgeber keinen Anlaß gesehen, für Eilfälle eine Ausnahme vom Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats in sozialen Angelegenheiten zuzulassen. Bei anderen Beteiligungsrechten hat er dies getan, insbesondere bei § 100 BetrVG, der dem Arbeitgeber ermöglicht, die zustimmungspflichtigen personellen Einzelmaßnahmen vorläufig ohne Zustimmung des Betriebsrats durchzuführen, wenn dies aus sachlichen Gründen dringend erforderlich ist. Ebenso hat der Gesetzgeber dem Kapitän in Angelegenheiten, die der Mitbestimmung der Bordvertretung unterliegen, das Recht eingeräumt, vorläufige Regelungen zu treffen, wenn dies zur Aufrechterhaltung des ordnungsgemäßen Schiffsbetriebs dringend erforderlich ist. Es kann nicht davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber ausgerechnet bei dem am stärksten ausgestalteten Beteiligungsrecht des Betriebsrats in § 87 BetrVG das Problem übersehen hat.

3. Diskutiert wird ein Recht des Arbeitgebers für einseitige Anordnungen nur in sogenannten Notfällen, in denen sofort gehandelt werden muß, um von dem Betrieb oder den Arbeitnehmern Schaden abzuwenden und in denen entweder der Betriebsrat nicht erreichbar ist oder keinen ordnungsgemäßen Beschluß fassen kann. Schon dem Grundsatz der vertrauensvollen Arbeit (§ 2 Abs. 1 BetrVG) kann entnommen werden, daß in solchen extremen Notsituationen der Arbeitgeber das Recht hat, vorläufig zur Abwendung akuter Gefahren oder Schäden eine Maßnahme durchzuführen, wenn er unverzüglich die Beteiligung des Betriebsrats nachholt.

4. Vorliegend bestand für den Arbeitgeber kein Notfall. Die Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit auf die Wochentage und Arbeitsbeginn sowie -ende an den Wochentagen war geregelt durch die Betriebsvereinbarung vom 13. Januar 1986.

Diese Arbeitszeitregelung galt mangels einer Einigung der Betriebsparteien über eine neue Arbeitszeitregelung zunächst über den 1. April 1988 hinaus weiter, selbst wenn davon ausgegangen wird, die Betriebsvereinbarung vom 13. Januar 1986 wirke nicht nach, weil sie durch Zweckerfüllung abgelaufen sei. Gegen eine Nachwirkung spricht, daß die Betriebsvereinbarung 1986 ausdrücklich zur Umsetzung der Arbeitszeitverkürzung auf 38,5 Stunden nach dem MTV Druck geschlossen wurde. Für eine Nachwirkung spricht aber, daß der Zweck einer Betriebsvereinbarung nur dann erfüllt ist, wenn der Regelungsgegenstand entfallen ist, z.B. eine Sozialeinrichtung aufgelöst wurde über deren Verwaltung eine Betriebsvereinbarung besteht. In den Fällen, in denen - wie vorliegend - der Regelungsgegenstand weiterbesteht, der Inhalt der Betriebsvereinbarung aber wegen einer Veränderung der rechtlichen Rahmenbedingungen angepaßt werden soll, erfüllt die Nachwirkung gerade ihren Zweck, die bisherige betriebliche Regelung zu erhalten, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt wird.

Der Senat hat die Frage, ob die Betriebsvereinbarung 1986 nach § 77 Abs. 6 BetrVG über den 1. April 1988 nachgewirkt hat, nicht abschließend entscheiden müssen. Nach Überzeugung des Senats würde nämlich auch ein Ablaufen der Betriebsvereinbarung wegen Zweckerfüllung nicht dazu führen, daß für den Betrieb die Arbeitszeit vorübergehend ungeregelt wäre, so daß jeder Arbeitnehmer zu jeder beliebigen Zeit die Arbeit aufnehmen und beenden könnte. Vielmehr bleibt die bisher durch Betriebsvereinbarung geregelte Arbeitszeitordnung als betriebliche Arbeitszeitordnung bestehen, bis sich die Betriebsparteien auf eine Verteilung der verkürzten wöchentlichen Arbeitszeit geeinigt haben bzw. die Einigungsstelle einen Beschluß gefaßt hat. Erst wenn die bisherige Verteilung der Arbeitszeit auf die Wochentage tarifwidrig wird, stellt sich die Frage, ob der Arbeitgeber diese einseitig ändern kann.

5. Die bisherige betriebliche Arbeitszeitordnung wurde auch nicht am 1. April 1988 tarifwidrig. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts befand sich der Arbeitgeber nicht in der Zwangslage, sich entweder tarifwidrig oder betriebsverfassungswidrig zu verhalten. Die Durchführungsbestimmungen zu § 3 MTV, die Teil des Tarifvertrages sind, überlassen den Betriebsparteien die Umsetzung der Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit und geben ihnen hierfür die Auswahl zwischen vier Alternativen. Eine besteht darin, es bei der bisherigen betriebsüblichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden zu belassen und dafür den Arbeitnehmern bezahlte freie Tage oder freie Stunden zu gewähren, jeweils verteilt auf die Arbeitswochen des Quartals, Halbjahres oder Jahres. Die Einigung zwischen den Betriebsparteien erst nach Inkrafttreten der Arbeitszeitverkürzung auf 37,5 Stunden ab 1. April 1988 hat nur zur Folge, daß die Betriebsparteien eine von vier Alternativen,nämlich die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit gleichmäßig zu verteilen, für die Vergangenheit nicht mehr in Anspruch nehmen können, so daß für eine vorübergehende Zeit auf jeden Fall ein Freizeitanspruch entsteht. Ein Notfall käme nur dann in Betracht, wenn die bisherige betriebliche Arbeitszeitordnung tarifwidrig geworden wäre.

Dementsprechend war dem Antrag mit der Einschränkung stattzugeben, der Arbeitgeber sei bei tariflicher Änderung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit nicht berechtigt, Anfang und Ende der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Pausen sowie Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage ohne Zustimmung des Betriebsrats einseitig festzulegen, solange die bisherige Verteilung der Arbeitszeit nach dem neuen Tarifvertrag beibehalten werden kann.