Arbeitnehmerbegriff - Art 7 EGRL 88/2003 - Art 31 Abs 2 EUGrdRCh - behinderte Person - Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub

EuGH Luxemburg Az. C-316/13 vom 26. März 2015

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

26. März 2015(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 31 Abs. 2 – Richtlinie 2003/88/EG – Art. 7 – Begriff ‚Arbeitnehmer‘ – Behinderte Person – Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub – Mit dem Unionsrecht unvereinbare nationale Regelung – Rolle des nationalen Gerichts“

In der Rechtssache C‑316/13

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Frankreich) mit Entscheidung vom 29. Mai 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Juni 2013, in dem Verfahren

Gérard Fenoll

gegen

Centre d’aide par le travail „La Jouvene“,

Association de parents et d’amis de personnes handicapées mentales (APEI) d’Avignon

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter A. Borg Barthet und E. Levits (Berichterstatter) sowie der Richterin M. Berger und des Richters F. Biltgen,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. März 2014,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– von Herrn Fenoll, vertreten durch G. Delvolvé und A. Delvolvé, avocats,

– der Association de parents et d’amis de personnes handicapées mentales (APEI) d’Avignon, vertreten durch L. Cocquebert, avocat,

– der französischen Regierung, vertreten durch N. Rouam, D. Colas und R. Coesme als Bevollmächtigte,

– der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und C. Schillemans als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Van Hoof und M. van Beek als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. Juni 2014

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Begriffs „Arbeitnehmer“ im Sinne der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. L 299, S. 9) sowie des Art. 31 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Fenoll auf der einen Seite und dem Centre d’aide par le travail „La Jouvene“ (Zentrum für Hilfe durch Arbeit „La Jouvene“, im Folgenden: CAT „La Jouvene“) sowie der Association de parents et d’amis de personnes handicapées mentales (APEI) d’Avignon auf der anderen Seite über dessen Antrag auf eine finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3 In Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2003/88 heißt es:

„(1) Diese Richtlinie enthält Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung.

(2) Gegenstand dieser Richtlinie sind

a) … der Mindestjahresurlaub …

(3) Diese Richtlinie gilt unbeschadet ihrer Artikel 14, 17, 18 und 19 für alle privaten oder öffentlichen Tätigkeitsbereiche im Sinne des Artikels 2 der Richtlinie 89/391/EWG [des Rates vom 12. Juni 1989 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit (ABl. L 183, S. 1)].

…“

4 Art. 7 („Jahresurlaub“) dieser Richtlinie lautet:

„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.

(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“

5 Nach Art. 17 der Richtlinie 2003/88 können die Mitgliedstaaten von bestimmten Vorschriften dieser Richtlinie abweichen. Hinsichtlich ihres Art. 7 ist jedoch keine Abweichung zulässig.

6 Art. 2 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 89/391 lautet:

„(1) Diese Richtlinie findet Anwendung auf alle privaten oder öffentlichen Tätigkeitsbereiche (gewerbliche, landwirtschaftliche, kaufmännische, verwaltungsmäßige sowie dienstleistungs- oder ausbildungsbezogene, kulturelle und Freizeittätigkeiten usw.).

(2) Diese Richtlinie findet keine Anwendung, soweit dem Besonderheiten bestimmter spezifischer Tätigkeiten im öffentlichen Dienst, z. B. bei den Streitkräften oder der Polizei, oder bestimmter spezifischer Tätigkeiten bei den Katastrophenschutzdiensten zwingend entgegenstehen.

In diesen Fällen ist dafür Sorge zu tragen, dass unter Berücksichtigung der Ziele dieser Richtlinie eine größtmögliche Sicherheit und ein größtmöglicher Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer gewährleistet ist.“

 Französisches Recht

 Code du travail (Arbeitsgesetzbuch)

7 Art. L. 223-2 Abs. 1 des Code du travail lautet in seiner zur Zeit der im Ausgangsverfahren maßgebenden Ereignisse geltenden Fassung:

„Ein Arbeitnehmer, der nachweist, im Laufe des Bezugsjahrs während eines Zeitraums, der mindestens einem Monat effektiver Arbeitszeit entspricht, beim selben Arbeitgeber beschäftigt gewesen zu sein, hat Anspruch auf Urlaub von 2,5 Arbeitstagen je Arbeitsmonat, ohne dass die Gesamtdauer des zustehenden Urlaubs 30 Arbeitstage überschreiten kann.“

8 Art. L. 223-4 des Code du travail sieht vor:

„Für die Ermittlung der Urlaubsdauer sind einem Monat effektiver Arbeitszeit vier Arbeitswochen oder 24 Arbeitstage gleichgestellt. Die Zeit des bezahlten Urlaubs, die … Ausgleichsruhetage, die … Ruhezeit der Wöchnerinnen, die aufgrund der Reduzierung der Arbeitszeit erworbenen Ruhetage und die auf eine ununterbrochene Dauer von einem Jahr beschränkte Zeit, während der die Erfüllung des Arbeitsvertrags aufgrund eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit unterbrochen ist, werden als effektive Arbeitszeit angesehen. …“

9 Art. L. 323-10 des Code du travail bestimmt:

„Als behinderter Arbeitnehmer im Sinne dieses Abschnitts gilt jede Person, deren Möglichkeiten, einen Arbeitsplatz zu erhalten oder zu behalten, infolge der Veränderung einer oder mehrerer körperlichen, sensorischen, geistigen oder psychischen Funktionen tatsächlich eingeschränkt sind.

Die Anerkennung als behinderter Arbeitnehmer erfolgt durch die in Art. L. 146-9 des Code de l’action sociale et des familles (Sozial- und Familiengesetzbuch) genannte Kommission.

Die Orientierung in einer Einrichtung oder einem Dienst nach Art. L. 312-1 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. a dieses Gesetzes gilt als Anerkennung als behinderter Arbeitnehmer.“

 Code de l’action sociale et des familles

10 Art. L. 312-1 des Code de l’action sociale et des familles bestimmt in seiner seit dem 6. September 2003 geltenden Fassung:

„Soziale und medizinisch-soziale Einrichtungen und Dienste im Sinne dieses Gesetzes sind die nachstehend aufgeführten Einrichtungen und Dienste mit oder ohne eigener Rechtspersönlichkeit:

5. Einrichtungen oder Dienste:

a)       Hilfe durch Arbeit, ausgenommen Einrichtungen, mit denen eine vertragliche Vereinbarung für die in Art. L. 322-4-16 des Code du travail genannten Tätigkeiten besteht, sowie in Art. L. 323-30 ff. dieses Gesetzes definierte, für Behinderte geschützte Unternehmen;

…“

11 Art. L. 344-2 des Code de l’action sociale et des familles bestimmte in seiner zwischen dem 3. Januar 2002 und dem 11. Februar 2005 geltenden Fassung:

„Zentren für Hilfe durch Arbeit – mit oder ohne Wohnheim – nehmen behinderte Jugendliche und Erwachsene auf, die momentan oder dauerhaft weder in gewöhnlichen Unternehmen, an einem für Behinderte geschützten Arbeitsplatz oder im Auftrag eines Verteilungszentrums für Heimarbeit arbeiten können noch eine unabhängige berufliche Tätigkeit ausüben können. Sie bieten ihnen verschiedene Möglichkeiten beruflicher Tätigkeiten, Unterstützung in medizinisch-sozialer Hinsicht und bei der Bildung sowie ein Lebensumfeld, das ihre persönliche Entwicklung und ihre soziale Integration fördert.

…“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

12 Herr Fenoll nahm vom 1. Februar 1996 bis zum 20. Juni 2005 das CAT „La Jouvene“ in Anspruch. Ursprünglich erhielt er regelmäßig fünf Wochen bezahlten Jahresurlaub.

13 Vom 16. Oktober 2004 bis zum Zeitpunkt seines Ausscheidens aus dem CAT war Herr Fenoll krankgeschrieben. Als dieser Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit begann, standen ihm für den Beschäftigungszeitraum vom 1. Juni 2003 bis zum 31. Mai 2004 noch zwölf Tage bezahlter Jahresurlaub zu, den er nicht genommen hatte. Außerdem konnte Herr Fenoll seinen Urlaub für den Bezugszeitraum vom 1. Juni 2004 bis zum 31. Mai 2005 nicht nehmen. Nach Ansicht von Herrn Fenoll steht ihm für diese Ansprüche auf erworbene, aber nicht genommene Urlaubstage eine finanzielle Vergütung in Höhe von 945 Euro zu. Das CAT „La Jouvene“ verweigerte ihm deren Zahlung.

14 Nachdem das Tribunal d’instance d’Avignon (Frankreich) seine Klage auf Entschädigung letztinstanzlich abgewiesen hatte, legte Herr Fenoll Kassationsbeschwerde ein.

15 Das vorlegende Gericht weist auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und zum Begriff „Arbeitnehmer“ im Sinne von Art. 45 AEUV hin. In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Personen, die in einem Zentrum für Hilfe durch Arbeit (im Folgenden: CAT) untergebracht sind und dort keinen Arbeitnehmerstatus haben, unter den Begriff „Arbeitnehmer“ im Sinne des Unionsrechts fallen.

16 Das vorlegende Gericht weist auf den Wortlaut von Art. 31 Abs. 2 der Charta hin, wonach jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer u. a. das Recht auf bezahlten Jahresurlaub hat, und führt aus, dass nach ständiger Rechtsprechung in einem Rechtsstreit zwischen Privaten die Grundrechte der Europäischen Union geltend gemacht werden könnten, um deren Achtung durch die Organe der Union und die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts zu überprüfen.

17 Unter diesen Umständen hat die Cour de cassation das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist Art. 3 der Richtlinie 89/391, auf die Art. 1 der Richtlinie 2003/88, der deren Anwendungsbereich festlegt, verweist, dahin auszulegen, dass eine Person, die in ein CAT aufgenommen worden ist, als „Arbeitnehmer“ im Sinne dieses Art. 3 anzusehen ist?

2. Ist Art. 31 der Charta dahin auszulegen, dass eine Person, wie sie in der vorangegangenen Frage beschrieben wird, als „Arbeitnehmer“ im Sinne dieses Artikels anzusehen ist?

3. Kann sich eine Person, wie sie in der ersten Frage beschrieben wird, unmittelbar auf ihre Rechte aus der Charta berufen, um einen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub zu erhalten, wenn die nationale Regelung für sie keinen solchen Anspruch vorsieht, und muss der nationale Richter, um die volle Wirksamkeit dieser Rechte sicherzustellen, jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet lassen?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten und zur zweiten Frage

18 Mit diesen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Begriff „Arbeitnehmer“ im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er eine Person einschließt, die in ein CAT wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende aufgenommen worden ist.

19 Hierzu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie 2003/88 in Verbindung mit Art. 2 der Richtlinie 89/391, auf den dieser Art. 1 Abs. 3 verweist, diese Richtlinien für alle privaten oder öffentlichen Tätigkeitsbereiche gelten, um die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit zu verbessern und bestimmte Aspekte der Gestaltung ihrer Arbeitszeit zu regeln.

20 Daher hat der Gerichtshof entschieden, dass der Anwendungsbereich der Richtlinie 89/391 weit zu verstehen ist, so dass die in Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Ausnahmen eng auszulegen sind (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile Simap, C‑303/98, EU:C:2000:528, Rn. 34 und 35, sowie Kommission/Spanien, C‑132/04, EU:C:2006:18, Rn. 22). Diese Ausnahmen sind nämlich allein zu dem Zweck erlassen worden, das ordnungsgemäße Funktionieren der Dienste zu gewährleisten, die in Situationen von besonderer Schwere und besonderem Ausmaß für den Schutz der öffentlichen Sicherheit, Gesundheit und Ordnung unerlässlich sind (Urteil Neidel, C‑337/10, EU:C:2012:263, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

21 Da keiner dieser Umstände hinsichtlich der Situation einer Person wie des Klägers des Ausgangsverfahrens einschlägig ist, fällt dessen Tätigkeit in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/88.

22 Daraus ergibt sich, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2003/88, insbesondere Art. 7, auf die von Herrn Fenoll ausgeübte Tätigkeit Anwendung finden.

23 Zu beantworten ist daher die Frage, ob Herr Fenoll diese Tätigkeit als Arbeitnehmer im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta ausübt.

24 Insoweit ist festzustellen, dass die Richtlinie 2003/88 – wie der Generalanwalt in Nr. 29 seiner Schlussanträge ausführt – weder auf den Arbeitnehmerbegriff der Richtlinie 89/391 verweist noch auf die Definition dieses Begriffs, wie sie sich aus einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten ergibt (vgl. in diesem Sinne Urteil Union syndicale Solidaires Isère, C‑428/09, EU:C:2010:612, Rn. 27).

25 Hieraus ergibt sich, dass der Arbeitnehmerbegriff für die Zwecke der Anwendung der Richtlinie 2003/88 nicht nach Maßgabe der nationalen Rechtsordnungen unterschiedlich ausgelegt werden kann, sondern eine eigenständige unionsrechtliche Bedeutung hat (Urteil Union syndicale Solidaires Isère, C‑428/09, EU:C:2010:612, Rn. 28).

26 Wie der Generalanwalt in Nr. 26 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, ist diese Feststellung auch im Hinblick auf die Auslegung des Begriffs „Arbeitnehmer“ im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta geboten, um die Einheitlichkeit des persönlichen Geltungsbereichs des Anspruchs der Arbeitnehmer auf bezahlten Urlaub zu gewährleisten.

27 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Arbeitnehmerbegriff im Rahmen der Richtlinie 2003/88 nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs anhand objektiver Kriterien zu definieren ist, die das Arbeitsverhältnis unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten der betroffenen Personen kennzeichnen. Als „Arbeitnehmer“ ist daher jeder anzusehen, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält (vgl. in diesem Sinne Urteile Union syndicale Solidaires Isère, C‑428/09, EU:C:2010:612, Rn. 28, und Neidel, C‑337/10, EU:C:2012:263, Rn. 23).

28 Um zu prüfen, ob dieser Begriff eine Person einschließen kann, die, wie Herr Fenoll, in ein CAT aufgenommen worden ist, sind folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen.

29 Erstens hat der Gerichtshof entschieden, dass sich das nationale Gericht im Rahmen der ihm obliegenden Prüfung, ob der Betreffende unter den Arbeitnehmerbegriff fällt, auf objektive Kriterien stützen und eine Gesamtwürdigung aller Umstände der bei ihm anhängigen Rechtssache vornehmen muss, die die Art der in Rede stehenden Tätigkeiten und des Verhältnisses zwischen den fraglichen Parteien betreffen (Urteil Union syndicale Solidaires Isère, C‑428/09, EU:C:2010:612, Rn. 29).

30 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass Personen, die in ein CAT aufgenommen worden sind, bestimmten Vorschriften des Code du travail nicht unterliegen. Dieser Umstand, der eine Rechtsstellung sui generis dieser Personen bewirkt, kann allerdings im Rahmen der Beurteilung des Beschäftigungsverhältnisses zwischen den betreffenden Parteien nicht ausschlaggebend sein.

31 Der Gerichtshof hat insoweit nämlich bereits entschieden, dass es für die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Unionsrechts ohne Bedeutung ist, dass ein Beschäftigungsverhältnis nach nationalem Recht ein Rechtsverhältnis sui generis ist (vgl. Urteil Kiiski, C‑116/06, EU:C:2007:536, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32 Zweitens ist unstreitig, dass Herr Fenoll während einer gewissen Zeit – im vorliegenden Fall von der Aufnahme seiner Tätigkeit beim CAT „La Jouvene“ im Jahr 1996 an und mindestens während der fünf darauffolgenden Jahre, für die er im Übrigen bezahlten Jahresurlaub erhalten hat – verschiedene Leistungen erbracht hat. Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten geht hervor, dass diese von medizinisch-sozialer Unterstützung begleiteten Leistungen von dem Personal und der Geschäftsleitung des CAT „La Jouvene“ angewiesen und geleitet wurden, wobei sich das CAT bemühte, dem Betroffenen eine seinen Bedürfnissen bestmöglich angepasste Lebensweise zu bieten. Ein solcher organisatorischer Rahmen kann einer Einrichtung wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden CAT ermöglichen, sowohl für die persönliche Entwicklung einer schwerbehinderten Person durch die Förderung ihrer Fähigkeiten Sorge zu tragen als auch im Rahmen des Möglichen darauf zu achten, dass die dieser Person übertragenen Leistungen einen gewissen wirtschaftlichen Nutzen zugunsten der betreffenden Einrichtung haben können.

33 Drittens ergibt sich ferner aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten, dass Herr Fenoll für seine Leistungen, die auf diese Weise in das wirtschaftlich-soziale Programm des CAT „La Jouvene“ eingebunden waren, im Gegenzug eine Vergütung erhalten hatte. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass diese deutlich unter dem garantierten Mindestlohn in Frankreich liegen konnte, im Hinblick auf die Einstufung von Herrn Fenoll als „Arbeitnehmer“ im Sinne des Unionsrechts nicht berücksichtigt werden kann.

34 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs spielt es nämlich für die Frage, ob jemand als Arbeitnehmer im Sinne des Unionsrechts anzusehen ist, keine Rolle, wie hoch die Produktivität des Betroffenen ist, woher die Mittel für seine Entlohnung stammen oder ob diese eine eingeschränkte Höhe aufweist (vgl. Urteile Bettray, 344/87, EU:C:1989:226, Rn. 15 und 16, Kurz, C‑188/00, EU:C:2002:694, Rn. 32, sowie Trojani, C‑456/02, EU:C:2004:488, Rn. 16).

35 Viertens ist von Bedeutung, ob die von Herrn Fenoll im CAT „La Jouvene“ ausgeübten Tätigkeiten als „tatsächlich und echt“ zu qualifizieren sind oder ob sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen, so dass nach der in Rn. 27 des vorliegenden Urteils angeführten ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs derjenige, der sie ausführt, nicht als „Arbeitnehmer“ eingestuft werden kann.

36 In diesem Zusammenhang leiten die Association de parents et d’amis de personnes handicapées mentales (APEI) d’Avignon und die französische Regierung aus dem Sachverhalt, der dem Urteil Bettray (344/87, EU:C:1989:226) zugrunde lag, ab, dass Herr Fenoll dementsprechend nicht als „Arbeitnehmer“ eingestuft werden könne, da seine Tätigkeiten im CAT „La Jouvene“ angeblich mit denjenigen vergleichbar seien, die von Personen ausgeübt würden, die in einem Therapiezentrum für Suchtkranke wie dem in jenem Urteil in Rede stehenden aufgenommen worden seien.

37 Dieser Betrachtungsweise kann nicht gefolgt werden.

38 Zwar hat der Gerichtshof in Rn. 17 des Urteils Bettray (344/87, EU:C:1989:226) entschieden, dass Tätigkeiten nicht als tatsächliche und echte wirtschaftliche Tätigkeiten angesehen werden können, die nur ein Mittel der Rehabilitation oder der Wiedereingliederung der Betroffenen in das Arbeitsleben darstellen. Er hat jedoch auch bereits klargestellt, dass diese Erwägung nur im Zusammenhang mit dem Sachverhalt, der jenem Urteil zugrunde lag, maßgeblich ist. Dabei ging es um die Situation einer Person, die aufgrund ihrer Drogenabhängigkeit nach nationalen Rechtsvorschriften eingestellt worden war, die bezweckten, Personen Arbeit zu verschaffen, die infolge von in ihrer Person begründeten Umständen auf unbestimmte Zeit nicht in der Lage sind, unter normalen Bedingungen zu arbeiten (vgl. Urteil Trojani, C‑456/02, EU:C:2004:488, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39 Sodann ist festzustellen, dass – auch wenn die Arbeitsplätze im CAT „La Jouvene“ genau wie diejenigen, die in der Rechtssache, in der das Urteil Bettray (344/87, EU:C:1989:226) erging, für Suchtkranke bestimmt waren, Personen vorbehalten sind, die infolge von in ihrer Person begründeten Umständen nicht in der Lage sind, unter normalen Bedingungen zu arbeiten – sich aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten gleichwohl ergibt, dass die Konzeption der Regelung über die Funktionsweise eines CAT und somit über die von den Behinderten dort ausgeübten Tätigkeiten so geartet ist, dass diese Tätigkeiten nicht als lediglich untergeordnet und unwesentlich im Sinne der in Rn. 27 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung erscheinen.

40 Wie der Generalanwalt insbesondere in Nr. 42 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, werden die von den Behinderten im CAT „La Jouvene“ ausgeübten Tätigkeiten nämlich nicht allein deshalb eingerichtet, um den Betroffenen eine – gegebenenfalls ablenkende – Beschäftigung zu bieten. Vielmehr sind diese Tätigkeiten, wenn sie auch den Fähigkeiten der Betroffenen angepasst sind, zugleich von einem gewissen wirtschaftlichen Nutzen. Dies gilt umso mehr, als es diese Tätigkeiten ermöglichen, die Produktivität schwerbehinderter Menschen – so gering sie auch sein mag – zu steigern und zugleich den sozialen Schutz zu gewährleisten, der ihnen zusteht.

41 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich daher, dass eine Person, die Tätigkeiten wie Herr Fenoll im CAT „La Jouvene“ ausübt, aufgrund der Gesichtspunkte, die sich aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten ergeben, als „Arbeitnehmer“ im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta eingestuft werden kann.

42 In diesem Zusammenhang hat das nationale Gericht insbesondere zu prüfen, ob die vom Betroffenen tatsächlich erbrachten Leistungen als auf dem Beschäftigungsmarkt üblich angesehen werden können. Dabei können nicht nur der Status und die Praxis des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden CAT als Aufnahmeeinrichtung sowie die verschiedenen Aspekte der Zielsetzung seines Programms zur sozialen Unterstützung, sondern auch die Art der Leistungen und die Modalitäten ihrer Erbringung berücksichtigt werden (vgl. entsprechend Urteil Trojani, C‑456/02, EU:C:2004:488, Rn. 24).

43 Unter diesen Umständen ist auf die ersten beiden Fragen zu antworten, dass der Begriff „Arbeitnehmer“ im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er eine Person, die in ein CAT wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende aufgenommen worden ist, einschließen kann.

 Zur dritten Frage

44 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 31 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er in einem Rechtsstreit zwischen Privaten unmittelbar geltend gemacht werden kann, um die volle Wirksamkeit des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu gewährleisten und zu erreichen, dass jede entgegenstehende nationale Vorschrift unangewendet bleibt.

45 In diesem Zusammenhang genügt es, festzustellen, dass Art. 31 Abs. 2 der Charta – wie der Generalanwalt in Nr. 23 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens in zeitlicher Hinsicht nicht anwendbar ist.

46 Die Forderung von Herrn Fenoll bezüglich seiner bezahlten Urlaubstage betrifft nämlich einen Zeitraum vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon und damit vor dem Zeitpunkt, in dem die Charta nach Art. 6 Abs. 1 des EU-Vertrags den gleichen Rang wie die Verträge erlangt hat.

47 Daher kann Art. 31 Abs. 2 der Charta als solcher in einem Rechtsstreit wie dem des Ausgangsverfahrens nicht geltend gemacht werden.

48 Hinsichtlich der Möglichkeit einer Bezugnahme auf Art. 7 der Richtlinie 2003/88, der gerade den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub regelt, ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass Art. 7 der Richtlinie für den Fall, dass das nationale Recht nicht richtlinienkonform ausgelegt werden kann – was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist –, in einem Rechtsstreit zwischen Privaten wie dem des Ausgangsverfahrens nicht geltend gemacht werden kann, um die volle Wirksamkeit dieses Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu gewährleisten und zu erreichen, dass jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet bleibt. Darüber hinaus könnte sich die durch die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht geschädigte Partei in einer solchen Situation jedoch auf die auf dem Urteil Francovich u. a. (C‑6/90 und C‑9/90, EU:C:1991:428) beruhende Rechtsprechung berufen, um gegebenenfalls Ersatz des ihr entstandenen Schadens zu erlangen (vgl. Urteil Dominguez, C‑282/10, EU:C:2012:33, Rn. 43).

49 Nach alledem ist die dritte Frage nicht zu beantworten.

 Kosten

50 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Der Begriff „Arbeitnehmer“ im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er eine Person, die in ein Zentrum für Hilfe durch Arbeit wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende aufgenommen worden ist, einschließen kann.

Unterschriften