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Präventionsverfahren

Autor:
Aytug Tuncel
7 Minuten Lesezeit

Das Präventionsverfahren dient dem Zweck, Kündigungen von (schwer-)behinderten Menschen und den ihnen gleichgestellten behinderten Menschen zu verhindern. Das Präventionsverfahren verpflichtet den Arbeitgeber, bereits sehr früh vorbeugend tätig zu werden, um die Kündigung zu vermeiden.

Im Zuge des Präventionsverfahrens soll der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung und den Betriebsrat über das Verfahren unterrichten und Maßnahmen beraten, wie Kündigungen von (schwer-)behinderten und gleichgestellten behinderten Menschen vermieden werden können.

Was Sie als Betriebsrat oder SBV dazu wissen müssen, erfahren Sie in diesem Artikel.

Personen unterhalten sich über das Präventionsverfahren

Zweck des Präventionsverfahrens

Das Verfahren hat den Zweck, personen-, verhaltens- oder betriebsbedingte Kündigungen von (schwer-)behinderten Mitarbeitern zu vermeiden.

Im Rahmen des Präventionsverfahrens wird geprüft, ob das Arbeitsumfeld und der Arbeitsplatz eines (schwer-)behinderten oder ihm gleichgestellten Mitarbeiters verändert und an die individuellen Bedürfnisse angepasst werden kann. Dabei kommen auch Maßnahmen der Gesundheitsprävention zur Anwendung.

Darüber hinaus geht es darum, Lösungen für verhaltens- und betriebsbedingte Schwierigkeiten zur Erhaltung des Arbeitsplatzes zu finden. Hierbei können die zuständigen Integrationsfachdienste zur Lösung verhaltensbedingte Probleme hinzugezogen werden.

Hier kommen insbesondere Beratung und Begleitung durch den Inegrationsfachdienst am Arbeitsplatz in Betracht.

Verpflichtung des Arbeitgebers

Arbeitgeber sind nach § 167 Abs. 1 Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) zur Einleitung eines Präventionsverfahrens verpflichtet, soweit personen-, verhaltens- oder betriebsbedingte Schwierigkeiten zu erkennen sind. Diese Schwierigkeiten müssen zur Gefährdung des Arbeitsverhältnisses mit einem (schwer-)behinderten Mitarbeiter oder einem gleichgestellten behinderten Mitarbeiter führen können. Der betroffene Mitarbeiter muss zumindest sechs Monate im Betrieb beschäftigt sein.

Zwingend miteinzubeziehen sind dabei stets auch die Schwerbehindertenvertretung (SBV), der Betriebs- oder Personalrat sowie das Integrationsamt.

Der Arbeitgeber ist zur Durchführung dieser Präventionsmaßnahmen verpflichtet.

Die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses stellt immer das letzte mögliche Mittel dar. Der Arbeitgeber hat stets alles ihm Zumutbare zu tun, um das Arbeitsverhältnis aufrechtzuerhalten (ultima ratio Prinzip).

Soweit der Arbeitgeber das Präventionsverfahren gemäß § 167 Abs. 1 Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) nicht durchführt, muss er sich im Rahmen eines Kündigungsschutzprozesses vorhalten lassen, dass er eben nicht alles Erforderliche und Zumutbare zur „Rettung“ des Arbeitsverhältnisses getan hat.

Wichtig: Die Durchführung des Präventionsverfahrens im Sinne des § 167 Abs. 1 SGB IX (SGB IX) ist kein absolutes Wirksamkeitserfordernis für eine sozial gerechtfertigte Kündigung. Allerdings verschärft diese Norm die Darlegungs- und Beweislast des Arbeitgebers im Kündigungsschutzverfahren bezüglich der Frage, ob er tatsächlich alles Erforderliche zur Vermeidung der Kündigung getan hat.

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Durchführung des Präventionsverfahrens

Das Präventionsverfahren gemäß § 167 Abs. 1 SGB IX (SGB IX) ist sehr weitgehend. Dieses Verfahren gilt für jegliche Art der Kündigung. Auch vor Ausspruch einer Änderungskündigung und unabhängig der Frage, ob es sich um eine außerordentliche oder ordentliche Kündigung handelt, ist das Präventionsverfahren durchzuführen.

Vorgegeben ist, dass dieses Verfahren bereits bei Auftreten von „Schwierigkeiten“ durchgeführt werden muss. Dieses Auftreten von Schwierigkeiten setzt noch nicht voraus, dass tatsächlich schon Kündigungsgründe vorliegen müssen. Vielmehr ist dieses Verfahren frühzeitig einzuleiten. Bezüglich einer möglichen verhaltensbedingten Kündigung muss das Präventionsverfahren daher denklogisch sogar vor dem Ausspruch einer ersten Abmahnung durchgeführt werden.

Im Rahmen des Präventionsverfahrens müssen zunächst mit allen Beteiligten sämtliche Möglichkeiten erörtert werden, mit denen die Schwierigkeiten beseitigt werden können und das Arbeitsverhältnis möglichst dauerhaft fortgesetzt werden kann. Dabei hat der Arbeitgeber gemeinsam mit der Schwerbehindertenvertretung alle zur Verfügung stehenden Beratungshilfen und finanziellen Leistungen der Integrationsämter oder der Bundesanstalt für Arbeit auszuschöpfen.

Gemäß § 167 Abs. 1 SGB IX haben die SBV und der Betriebsrat in dem Präventionsverfahren sowohl ein Anhörungs- als auch ein Mitwirkungsrecht, um Ausgrenzung und den eventuellen Verlust des Arbeitsplatzes präventiv zu verhindern.

Das Verfahren ist regelungsoffen und beinhaltet einen großen Gestaltungsspielraum. Gesucht werden stets sowohl interne Hilfen (zum Beispiel: Versetzung, Mediation, Weiterbildung, Erarbeitung neuer Aufgaben) als auch externe Hilfen (zum Beispiel: medizinische oder berufliche Rehabilitation, Selbsthilfegruppen, Sozialberatung, Lohnkostenzuschüsse). Die Hinzuziehung externer Leistungsträger eröffnet dabei auch finanzielle und ideelle Chancen. So können sie einerseits Leistungen zur Erhaltung des Arbeitsplatzes bereitstellen und andererseits auch eine versachlichende, objektivierende Wirkung auf eine konfliktbelastete betriebliche Lage bieten.

Zu den wichtigsten Reha- und Leistungsträgern zählen:

  • Die Bundesagentur für Arbeit
  • Die deutsche Rentenversicherung
  • Die gesetzliche Krankenversicherung
  • Die Unfallversicherungsträger
  • Sozialämter und Jobcenter
  • Integrationsämter und Integrationsfachdienste

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Verhinderung von Kündigungen

Der Arbeitsplatz von (schwer-)behinderten und ihnen gleichgestellten Arbeitnehmern kann durch eine Vielzahl von Gründen gefährdet sein. Nach § 167 Abs. 1 SGB kann es sich bei diesen insbesondere um

  • Personenbedingte Schwierigkeiten (liegen in der Person des Arbeitnehmers)
  • Verhaltensbedingte Schwierigkeiten (liegen im Verhalten des Arbeitnehmers)
  • Betriebsbedingte Schwierigkeiten

handeln.

Während das Auftreten dieser Schwierigkeiten normalerweise einen Kündigungsgrund darstellen kann, sollen es im Hinblick auf (schwer-)behinderte und ihnen gleichgestellte Beschäftigte zunächst als Anlass für eine frühzeitigte Intervention angesehen werden. Hier kommt grundsätzlich das Verhältnismäßigkeitsprinzip zur Anwendung, nach dem die Kündigung als letztes Mittel gilt, der stets gesetzliche Präventionsmaßnahmen vorausgehen müssen. Hierzu zählen jedoch keineswegs nur medizinische Rehabilitation oder eine berufliche Umschulung, sondern auch Leistungen, die dem Beschäftigten die Teilhabe am Arbeitsleben gemäß § 6 SGB IX ermöglichen. Beratung und Hilfen erhalten Betroffene in der Regel durch sogenannte Reha-Fachberater. Diese können mit der Unterstützung der SBV bei den Trägern der Rehabilitation beantragt werden.

Mögliche Maßnahmen zur Beseitigung bzw. Verringerung der Probleme am Arbeitsplatz sind unter anderem:

  • Eine günstigere und behindertengerechtere Arbeitsplatzgestaltung
  • Die Versetzung auf einen leidensgerechten Arbeitsplatz
  • Umgestaltung des Arbeitsumfelds
  • Wechsel von Voll- auf Teilzeit
  • Verlängerung der Pausenzeiten
  • Erwerb zusätzlicher Qualifikationen
  • Einsatz einer Arbeitsassistenz
  • Minderleistungsausgleich zum Lohn für den Arbeitsgeber

Die Durchführung des Präventionsverfahrens stellt jedoch keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für den Ausspruch einer Kündigung dar. Allerdings kann sie aufgrund des Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzips als sozial ungerechtfertigt angesehen werden, wenn die Kündigung durch ein Präventionsverfahren abgewendet werden könnte. Kann trotz der Durchführung eines Präventionsverfahrens die Kündigung nicht vermieden werden, muss vor Ausspruch der Kündigung dennoch grundsätzlich der Betriebsrat gemäß § 102 BetrVG angehört werden.

Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Interessenvertretungen

Für ein erfolgreiches Präventionsverfahren ist eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Arbeitgeber, der SBV, dem Betriebsrat sowie dem betroffenen Arbeitnehmer erforderlich. Dabei muss stets der Grundsatz der Verlässlichkeit der Absprachen zwischen den Parteien gelten.

So empfiehlt es sich auch einen betrieblichen Prozess zur Information festzulegen.

Insbesondere die SBV verfügt in der Regel über ein breites soziales Netzwerk und kann dadurch eventuelle Informationslücken des Arbeitgebers füllen. Darüber hinaus sollten Führungskräfte stets darüber im Bilde sein, welche Arbeitnehmer in ihrem Betrieb von Behinderung bedroht oder bereits einen Grad der Behinderung besitzen. Der Gesetzgeber sieht in § 178 SGB IX hierbei vor, dass der Arbeitgeber die SBV in allen Angelegenheiten, die einen Einzelnen oder (schwer-)behinderte Menschen als Gruppe berühren, unverzüglich zu unterrichten und vor einer Entscheidung anzuhören hat.

Wie unterscheidet sich das Präventionsverfahren vom BEM?

Das Präventionsverfahren dient dazu eine Gefährdung des jeweiligen Beschäftigungsverhältnisses aus jedem möglichen Grund zu verhindern und damit seiner Beendigung vorzubeugen.

Im Gegensatz dazu zielt das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) darauf ab, die Wiederholung einer bereits aufgetretenen längeren Arbeitsunfähigkeit zu vermeiden bzw. eine noch bestehende Arbeitsunfähigkeit zu überwinden und die damit verbundene Gefährdung des Arbeitsplatzes zu abzuwenden.

Darüber muss das Präventionsverfahren nur bei (schwer-)behinderten und ihnen gleichgestellten Beschäftigten durchgeführt werden, während auf ein BEM grundsätzlich alle Mitarbeiter einen Anspruch haben.

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Autor: Aytug Tuncel

Herr Aytug Tuncel ist seit 2004 zugelassener Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht (seit 2011) mit Kanzleisitz in Kiel. Seit 2007 ist Herr Rechtsanwalt Tuncel auch als Referent für Betriebsratsschulungen tätig. Der Schwerpunkt der anwaltlichen Tätigkeit liegt neben dem Vertragsrecht insbesondere in der bundesweiten Betreuung und Beratung von Betriebsräten. Hierzu gehört neben der Beratung auch die Vertretung in arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren und in Verfahren vor der Einigungsstelle. Neben der Mitbestimmung nach dem BetrVG liegt ein weiterer Fokus in der Beratung der Arbeitnehmervertreter in Aufsichtsräten (Mitbestimmungsgesetz).
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